Anja Blankenburg, Conventus Congressmanagement
Barbara Springer, Redaktion WUNDmanagement
03. Nürnberger Wundkongress:
Digitale Premiere gelungen
Als gelungene digitale Premiere fand am 3. und 4. Dezember der 03. Nürnberger Wundkongress statt. Neue Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, viele beachtenswerte Beispiele gelingender Vernetzung und kluger Verzahnung der Disziplinen und Professionen sowie Forderungen nach mehr Standardisierung in der Wundbehandlung erreichten erneut rund 1.000 Teilnehmer – diesmal eben an den Bildschirmen in Kliniken, Wohnzimmern und selbst unter Palmen.
Der Nürnberger Wundkongress ist – natürlich, der Name sagt es ja – in Nürnberg zu Hause. Auch in Zeiten der Pandemie. Mit Glühwein und Nürnberger Lebkuchen hieß Tagungspräsident Prof. Dr. Hermann Josef Bail, seines Zeichens Orthopäde und Unfallchirurg und Leiter der Universitätsklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Nürnberg, die Kongressteilnehmer willkommen. Zumindest mit einer appetitlichen Abbildung, dazu Bilder der Stadt Nürnberg früher und heute sowie vom weltberühmten Nürnberger Christkindlesmarkt. Die brachten für den Moment wenigstens eine Idee von Lokalkolorit auf die Bildschirme der rund 1.000 Teilnehmer bei der dritten Auflage des Nürnberger Wundkongresses.
Getrennt und trotzdem vereint
„Getrennt und trotzdem vereint“ lautete die Devise der komplett digitalen Veranstaltung, „WISSEN TEILEN, WUNDEN HEILEN“ das diesjährige Kongressmotto. 120 Live-Vorträge ausgewählter Experten in neun Hauptsitzungen, 20 Seminaren, 14 Sitzungen kooperierender Fachgesellschaften und Verbände, dazu elf Industriesessions und 30 Aussteller – eine stolze Bilanz zumal im Krisenjahr 2020, die auch beweist, wie sehr all jenen, die tagtäglich um die kontinuierliche Verbesserung der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden ringen, an einem regelmäßigen, wissenschaftlichen, gegenseitigen Austausch gelegen ist!
Am Ende zweier abwechslungsreicher Tage rund um das Thema chronische Wunde attestierte Hermann-Josef Bail den Vorträgen und Diskussionen eine hohe Qualität: „Wir nehmen viele neue Impulse mit nach Hause und mit zu unseren Patienten!“ Das ungewohnte Format hat sich dabei wunderbar bewährt, in sechs parallellaufenden Strängen blieb den Teilnehmern mitunter die Qual der Wahl – doch der rasche Wechsel in einen anderen „Raum“, in ein anderes Themenfeld, gestaltete sich ungleich simpler, als man es aus dem realen Kongresszentrum kennt.
Die Wissenschaftliche Leitung des 03. Nürnberger Wundkongresses.
Links Univ.-Prof. Dr. Hermann Josef Bail, Kongresspräsident;
rechts: Prof. Dr. med. Martin Storck, Präsident Deutscher Wundrat e. V. (Fotos: Conventus)
Ein thematisches Highlight des Kongresses war die Hauptsitzung zu „Gentherapie und Biologicals“. Spannend war die Fallbeschreibung von Maximilian Kückelhaus (Münster) zu den Chancen der Gentherapie bei der Erbkrankheit Epidermolysis bullosa (EB), auch Schmetterlingskrankheit genannt. Bei dieser genetischen Erkrankung kommt es unter anderem zu massiven chronischen Wunden, wiederkehrenden Infektionen und Narbenbildung. Derzeit existiert keine kurative Therapie, lediglich die Symptome der Manifestationen können gelindert werden. Kückelhaus präsentierte Ergebnisse eines Fünf-Jahres-Follow-Up zum Fall eines damals 6-jährigen Jungen, der an terminaler junktionaler EB leidet, dem Ärzte das Leben retteten, indem sie 80 Prozent der Körperoberfläche des Jungen mit Transplantaten aus genetisch veränderten epidermalen Stammzellen versorgten. Ohne dieses gentherapeutische Wagnis hätte das Kind keine Chance gehabt. Der Junge ist an den transplantierten Hautstellen seither symptomfrei. Das 5-Jahres-Follow-Up zeigt positive Ergebnisse: Die transgene Haut erweist sich als stabil, ohne Kontrakturen, ohne Blasen, ohne funktionelle Einschränkungen oder Hinweise auf maligne Entartungen. „Die Architektur gleicht jener einer gesunden Haut“, so Kückelhaus. Eine Adaption der Therapie auf andere Formen der Epidermolysis bullosa, aber auch – aufgrund der guten Qualität der transgenen Haut – zur Versorgung von Brandverletzten, könnten folgen.
Phagen – Reservemittel bei multiresistenten Keimen
Großes Potenzial scheinen auch Bakteriophagen zur Bekämpfung von Wundinfektionen zu bergen. Alperen Bingöl (Hannover) berichtete von Erfahrungen mit dem supportiven Einsatz der Viren, die hochspezifisch Bakterien befallen und zerstören. Es gelang bei inzwischen vier Patienten, deren chronisch infizierte Wunden vollständig zur Abheilung zu bringen. Die Phagen werden aufbereitet und auf Wunden gesprüht und mit Gaze abgedeckt. Wenngleich das Vorgehen zeitaufwendig ist, es vergehen zwei bis drei Wochen, bis die passenden Phagen isoliert sind, sieht Bingöl darin eine Reservestrategie bei multiresistenten Keimen und fehlender antibiotischer Option. Allerdings ließen sich nicht immer die passenden Viren isolieren, besonders bei bakterieller Mischflora ist ein Einsatz der hochspezialisierten Phagen nicht möglich. Die Behandlung ist auch derzeit nicht erstattungsfähig und klinische Studien werden durch strenge Regulierung erschwert.
Das Thema Kosten erweist sich nicht nur in diesem Fall als Pferdefuß – auch in der Sitzung „Hyperbare Oxygenierung zur Heilung von chronischen und infizierten Wunden" waren Kostenfragen ein Aspekt: Als Behandlungsoption bei chronischen und infizierten Wunden will der Gang in die Druckkammer sehr gut begründet sein. Fallberichte aus Berlin und Hannover andererseits konstatieren unterstützende Wirkung durch die Erhöhung des Sauerstoffanteils im Gewebe etwa bei nekrotisierenden Weichteilinfektionen oder beim Pyoderma gangraenosum. Bei bakteriellen Infektionen mit hoher Sterblichkeit könne die Therapie auch dazu beitragen, das Schlimmste zu verhindern. Fachgesellschaften und Kollegen, so die Message, sollten sich hier zusammentun und die Frage der Kostenübernahme voranbringen.
Eine andere Strategie zur Verbesserung der Gewebeoxygenierung bei Problemen der Wundheilung stellt die weitgehend in Vergessenheit geratene Behandlung mit Kohlenstoffdioxid dar. Bereits seit dem Mittelalter ist die positive Wirkung CO2-haltiger Bäder wie Durchblutungsförderung, Bakterienhemmung oder Beschleunigung der Knochenbruchheilung bekannt. Am Heinrich-Braun-Klinikum in Zwickau sind Kohlensäurebäder seit den 1970er Jahren etabliert und wurden zuletzt durch ein neuartiges Trockenbadsystem ersetzt. Bernhard Karich präsentierte Untersuchungsergebnisse von 180 Patienten nach Verletzungen der unteren Extremitäten, die eine CO2-Trockenbadbehandlung erhielten. Die nicht nur oberflächliche, sondern offenbar systemische Wirkung des CO2 brachte auch bei kritischen Weichteilverhältnissen gute Ergebnisse und verminderte Infektionen. Weshalb Kohlendioxid wieder mehr in den Fokus eines modernen Weichteilmanagements rücken sollte, so Karich.
Wundinfekt nach OP:
Gegen manche Regel wird ständig verstoßen
Ein weiterer Schwerpunkt waren Wundinfektionen, speziell die postoperativen, von denen es laut Schätzungen im Jahr 2006 rund 255.000 in Deutschland gegeben hat. Dass es in OP-Sälen und auf Krankenhausstationen in Deutschland heute Defizite bei der zwingend gebotenen hygienischen Arbeitsweise gibt, die behoben werden müssen und immerwährende Aufmerksamkeit verlangen, offenbarten die Beiträge von Tagungspräsident Hermann-Josef Bail und Renate Ziegler (Nürnberg). Jeder zehnte Patient, stellte Bail klar, ist postoperativ von einer solchen Komplikation betroffen, „bei manchen Eingriffen werden es sicher noch mehr sein. Dabei wird gegen einige Regeln im OP ständig verstoßen“. Gegenseitige Aufmerksamkeit – auch entgegen der Hierarchie! – müssten von allen Beteiligten als wichtiges Mittel verinnerlicht werden, das diene letztlich vor allem einem Zweck: „der Sicherheit unserer Patienten!“
Aufschlussreich in dem Zusammenhang ist auch die Erkenntnis, dass die Vorstellungen, welche Wunden tatsächlich infektionsgefährdet sind und auf welche es folglich ganz besonders aufzupassen gilt, nicht unbedingt der Realität entsprechen. Claudia Schatz (München) erläuterte hierzu: Wenn für Wunden mit besonderem Infektionsrisiko eine präventive Antiseptik vorgeschlagen wird, dann kommt der richtigen Einschätzung jenes Risikos große Bedeutung zu. Ein evidenzbasiertes Instrument für verschiedene Wundarten gibt es dazu nicht. Die Einschätzung findet in den meisten Fällen nach subjektiven Kriterien statt, erläuterte Schatz. Tatsächlich offenbarte die Auswertung von 97 Fragebögen einer quantitativen Querschnittsstudie mit Fachkräften scheinbar verbreitet fehlendes Wissen. Schulungen seien notwendig, so Schatz´ Resümee, und die Erstellung eines Risiko-Scores für einzelne Fachabteilungen und Wundarten augenscheinlich sinnvoll.
Neue Wundauflagen
Auf größtes Interesse der Teilnehmer aus Medizin und Pflege traf die Session „Neue Wundauflagen“. Nach einem Überblick über neue Wundauflagen und ihren Sinn und Nutzen – ein extrem breites Feld, wie Julian-Dario Rembe (Düsseldorf) verdeutlichte – präsentierte Michael Dietlein (Stadtbergen) Ergebnisse einer multizentrischen Anwenderbeobachtung zu den Wundheilungseigenschaften eines polyabsorbierenden TLC-Ag-Wundverbandes für Diabetische Fußulzera mit Anzeichen einer lokalen Infektion. Die Brisanz ist klar: Bis zu 35.000 Amputationen pro Jahr gehen auf das Konto diabetischer Fußulzera. Wie kann die Situation verbessert, die Infektionsrate gesenkt werden? 2.270 Patienten mit Wunden unterschiedlicher Ätiologie in 81 Zentren bundesweit waren in die Studie eingeschlossen, davon 545 mit Diabetischem Fußsyndrom (DFS). Die Auswertung allein jener Patienten unterstrich die Evidenz guter Wundheilungseigenschaften silberhaltiger Verbände – und damit die Notwendigkeit weiterer Daten, um den Weg für eine künftige Erstattungsfähigkeit zu ebnen.
Versorgungssituation im Land noch immer unbefriedigend
Viele weitere spezifische Einblicke bot das Programm, welches traditionell enorm von der Expertise sämtlicher an der Wunde beteiligter Fachgesellschaften und Verbände profitiert. Gewohnt breitgefächert auch das Seminarprogramm, das für vielfältige praktische Fragestellungen im Berufsalltag ein Update auf dem aktuellen Stand des Wissens präsentierte. Und selbstverständlich ist ein Wundkongress nicht vorstellbar, ohne viele gelingende Beispiele interdisziplinärer, interprofessioneller, intersektoraler Zusammenarbeit, die beim Thema Wunde so immens wichtig ist. Und die in diesem Rahmen natürlich auf offene Ohren treffen! Aber wie sieht die Realität im Land aus? Martin Storck (Karlsruhe), Präsident des Deutschen Wundrates und Co-Regisseur des 03. Nürnberger Wundkongresses, skizzierte die unbefriedigenden Fakten:
Zwischen 8.500 und 11.000 Euro Kosten verursacht ein Wundpatient im Jahr. Das versursacht Gesamtkosten von 7,5 Milliarden Euro jährlich in Summe. Diese hohen Kosten sind teils nicht unwesentlich bedingt durch die oft lange Behandlungsdauer. Wo liegen die Probleme? Storck listete auf: Es fehlt am Interesse vieler Beteiligter am Thema Wunde, an Expertise, an adäquater Vergütung im ambulanten Sektor. Moderne hydroaktive Wundbehandlung ist noch immer nicht überall etabliert, die erforderliche Kausaltherapie kommt oft zu spät. Im Dschungel an Therapeutika fehlte es oft an nachgewiesenem Nutzen. Weiterhin fehlt es an einer praxisnahen Leitlinie, an Forschung, an Evidenz. Warum ist das so? Weil die chronische Wunde ein Symptom darstellt, dem derart komplexe Geschehen zugrunde liegen, dass sie sich schwerlich in randomisierte Studien sortieren lassen. „Standards wären wünschenswert, das wissen wir seit Jahren!“, so Storck.
Kompetenzen und Netzwerke in der Wundversorgung
„Doch gibt es auch schon Beispiele von Netzwerken mit verbindlichen Standards", so Martin Storck in einer anderen Sitzung zu Netzwerken in der Wundversorgung in Kooperation mit dem Deutschen Wundrat e. V., dessen Präsident er ist. In vielen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Netzwerke effizient und langfristig kostensparend Menschen mit chronischen Wunden versorgen können. Unter www.wundnetze.de haben sich in Deutschland rund 40 regionale Wundnetze zusammengeschlossen, die vom Deutsche Wundrat e. V. unterstützt werden und sich einmal im Jahr zu einer Arbeitsgruppensitzung treffen.
In der Sitzung wurden weiter die Aspekte gesicherter Evidenz in der Lokaltherapie von Ewa Stürmer (Hamburg) beleuchtet und die rechtlichen Grundlagen der Organisation von Wundnetzen von Michael Wüstefeld (München) vorgestellt. Zur Evidenzlage zog Stürmer das Fazit, dass generell die Anzahl klinischer Studien für Behandlungspfade nicht ausreicht, dass es eine gewisse Evidenz für Schaumverbände gibt und der Biofilm eine besondere Herausforderung darstellt. Wüstefeld resümierte, dass strukturierte Wundnetz die notwendige interdisziplinäre Versorgung abbilden sowie durch Versorgungsverträge mit den Kassen die Versorgung auf eine rechtssichere Basis stellen und Regelungslücken schließen können. Weiterhin verbessern die Direktverträge die Einnahmesituation für die Beteiligten und Verordnungsregresse für Ärzte können ausgeschlossen werden.
Patientenedukation professionell umgesetzt
Im Expertenstandard DNQP wird gefordert, dass verständliches Material (z. B. Broschüren, Literaturlisten, Filme) zur Verfügung gestellt werden sollte, so Gudrun Deutschle-Coerper (Nürnberg) in ihrem Vortrag zu Qualitätsmerkmalen von Patientenbroschüren. Es gibt umfangreiches Material auf dem Markt und es ist manchmal schwierig, einzuschätzen, inwieweit die Information wirklich "ankommt". Deutschle-Coerper zeigte anhand der "Wittener Liste" die Qualitätskriterien, die eine Broschürenbewertung oder -erstellung im Alltag erleichtern. Die Liste stellt ein Assessment für pflegebezogene Texte im deutschen Sprachraum dar und orientiert sich an den Qualitätskriterien des Netzwerkes Patientenedukation in der Pflege. Sie kann hier kostenfrei unter "Materialien" heruntergeladen werden: www.patientenedukation.de.
Hinter den Kulissen des 03. Nürnberger Wundkongresses sorgten die Mitarbeiter der Kongressorganisation und die Techniker für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung. (Fotos: Conventus)
Fazit
Ein Wundkongress ist nicht vorstellbar, der bei allen bemerkenswerten Erfolgen, guten Beispielen, Ansätzen und Initiativen zur Bündelung und klugen Verzahnung von Kompetenzen, beim Blick in die Herausforderungen der nahen Zukunft und in vielversprechende Grundlagenforschung nicht auch den Finger „in die Wunde legt“. Mehr Standardisierung, mehr Effizienz und Effektivitätsbeurteilung in der Wundversorgung – ohne freilich Erfahrungswissen und Heilkunst zu ersetzen – so könnten die Weichen auf Fortschritt stehen. „Auch muss die Wunde im Medizinstudium einen höheren Stellenwert erhalten“, fordert Hermann Josef Bail in seinem Schlusswort. Bestenfalls sollte eine Fachdisziplin das Wissen vermitteln. „Die Crux ist, dass an verschiedenen Universitäten auch verschiedene Fächer die Wundbehandlung durchführen“, so Bail, mal die Allgemeinmedizin, mal die Dermatologie, Gefäßchirurgie, Diabetologe, Orthopädie und Unfallchirurgie, mal die Plastische Chirurgie usw. Daher herrsche auch wenig Einigkeit innerhalb der Disziplinen über Standards.
Und nicht zuletzt: Zu den notwenigen Schritten in Richtung Standardisierung der Wundbehandlung wird die Digitalisierung – beim Wundkongress thematisch nur gestreift – unweigerlich einen wesentlichen Teil beitragen. Den Wundkongress als solchen haben die digitalen Möglichkeiten im Jahr der Pandemie gerettet. So konnte wenigstens der Bedarf an wissenschaftlichem und kollegialem Austausch gedeckt werden.
Im kommenden Jahr soll das fränkische Zentrum wieder die realen Türen zum „WUKO“ öffnen, so wünschen es sich Veranstalter und Tagungspräsident Hermann-Josef Bail. Sicher kann das wohl noch niemand sagen. Sicher ist aber: Es lohnt sich in jedem Fall, den 02.-04.12. 2021 im Kalender zu reservieren. Der 04. Nürnberger Wundkongress wird dann unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Martin Storck stehen, an seiner Seite dann Prof. Dr. Ewa K. Stürmer (Hamburg)
Hier können Sie kostenfrei den gesamten Kongressbericht als PDF herunterladen: