von Martin Motzkus
Hand aufs Herz: Wann haben Sie das letzte Mal eine Bedienungsanleitung gelesen? Normalerweise läuft es doch so: Wir kaufen ein neues Gerät, zum Beispiel ein Smartphone, packen es voller Vorfreude aus und ...? Wir benutzen es einfach! Aber auch die Hersteller machen es uns leicht, denn Produkte werden immer nutzerorientierter und Unternehmen werden im gegenseitigen Verdrängungswettbewerb auch an diesem Attribut gemessen. Auch Software folgt diesem Prinzip. Das so genannte „Human Centered Software Design“ ist Standard bei der Entwicklung hochkomplexer Programme. Die Entwicklung von Computern in den 90er Jahren hat hier den Anfang gemacht. Einfach, um mehr Nutzer zu erreichen und natürlich, um mehr Geräte zu verkaufen. Eine Erfolgsgeschichte, wie wir heute wissen ...
DIN EN 6209 – Norm zur Erstellung von Bedienungsanleitungen
Gebrauchsanweisungen sind trotzdem notwendig, und es ist ratsam, ab und zu einen Blick hineinzuwerfen, damit nichts kaputt geht. Und die Hersteller? Die sind an bestimmte Regeln gebunden, denn mit einem verkauften Gerät werden auch produktbezogene Versprechungen und Garantien abgegeben. In Deutschland regelt die DIN EN 62079 „Erstellen von Anleitungen“ die Erstellung einer ordnungsgemäßen Betriebsanleitung. Sie enthält sicherheitsrelevante Hinweise und stellt damit für den Hersteller eine Absicherung z. B. gegen Schadensersatzansprüche dar. Aber auch Gebrauchsanweisungen sind wichtig, um Schäden zu vermeiden. Kürzlich las ich auf einer Bierflasche den Hinweis, dass Schwangere und Autofahrer dieses Getränk nicht trinken sollten. Eigentlich logisch, aber scheinbar noch als Hinweis nötig.
Medizinischer Bereich
Aber wie sieht es im medizinischen Bereich aus? Darf dort jeder einfach so ein Gerät benutzen, weil er oder sie glaubt, es zu können? Natürlich nicht! In der Medizinprodukte-Betreiberverordnung heißt es beispielsweise: „Medizinprodukte dürfen nur von Personen betrieben oder angewendet werden, die die dafür erforderliche Ausbildung oder Kenntnisse und Erfahrungen besitzen.“ Übertragen auf unseren Bereich, die Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden, bedeutet dies, dass jeder Anwender von z.B. Wundauflagen und Wundspüllösungen sich zunächst mit dem Inhalt der Gebrauchsanweisung vertraut machen muss, bevor er diese anwendet. Hinzu kommen spezielle Kenntnisse, wie sie z.B. in entsprechenden Fortbildungen wie Wundexperte (ICW) vermittelt werden. Mit dem Wissen scheint es aber oft nicht weit her zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass immer wieder Produktkombinationen eingesetzt werden, die nicht zugelassen sind, dass Antiseptika nicht bestimmungsgemäß angewendet werden und dass Wundauflagen falsch herum auf die Wunde gelegt werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich Werbeaussagen der Hersteller in Broschüren (siehe auch Informationen zum Verpackungsgesetz im Newsletter 01/2023), Informationen in Beipackzetteln und anderen Quellen wie Fachbüchern und Artikeln in Fachzeitschriften oft vermischen. So gibt es nicht für jedes Produkt eine perfekte Gebrauchsanweisung, die jeder und jede sofort verinnerlicht und die in jeder Situation passend und eindeutig ist. Nachfolgend ein Beispiel:
Packungsbeilage zu einer Alginat-Kompresse
Ein namhafter Hersteller von Produkten zur Wundbehandlung schreibt in der Packungsbeilage einer Alginatkompresse, dass diese für mäßig bis stark sezernierende Wunden geeignet ist. Ist das präzise genug, um in jedem Fall die richtige Entscheidung zu treffen? Wie viel Flüssigkeit ist denn „mäßig exsudierend“? Weiter heißt es, dass die Wunde mit einem geeigneten Sekundärverband abzudecken ist.
Dieses Beispiel heißt nicht unbedingt, dass sich der Hersteller falsch oder ungenau ausdrückt, aber, dass die Entscheidung letztlich beim Anwender liegt und eine sorgfältige Abwägung bei der Auswahl der Wundauflage(n), etwas Erfahrung und eine Einschätzung des Verlaufs erforderlich sind, um adäquat zu handeln. Liest man dann im weiteren Verlauf zu weiteren Eigenschaften desselben Produktes, so wird deutlich, dass Exsudatmanagement auch Wundrandschutz bedeutet und die Fasern nicht über den Wundrand gelegt werden sollten, um Mazerationen zu vermeiden.
An diesem (typischen Beispiel) wird deutlich, dass Anwenderinnen und Anwender „die im Verkehr übliche Sorgfalt“ an den Tag zu legen haben, wenn solche Produkte zum Einsatz kommen. Wird im diesem (juristischen) Sinne nicht sorgfältig gehandelt, handeln sie eben fahrlässig und Fahrlässigkeit (➤ Fahrlässigkeit (Definition) - Was bedeutet fahrlässig?) ist unter Umständen strafbar.
Nun kann man natürlich einwenden, dass Alginate nicht dazu geeignet sind, großen Schaden anzurichten, aber die Problematik der Nichtbeachtung von Anwendungshinweisen bzw. mangelnder Sorgfalt lässt sich auf viele andere Produkte übertragen. So ist es z.B. wesentlich gefährlicher, wenn hygienische Aspekte außer Acht gelassen werden. Ein Beispiel ist die Mehrfachverwendung von sterilen Produkten, die vom Hersteller als Einmalprodukte deklariert sind. So müssen z.B. unkonservierte Wundspüllösungen sofort nach Anbruch entsorgt werden. Sterile Wundauflagen dürfen nicht zerschnitten und Reste nicht weiterverwendet werden.
Fazit
Der Appell dieses Newsletters an Sie: Machen Sie sich die Mühe, Beipackzettel zu lesen. Dies gilt sowohl für neue Produkte als auch für solche, die Sie vielleicht schon seit Jahren kennen und verwenden. Die Liste möglicher Fehler ist lang, und wenn Fehler auftreten, sollten sie auch im Team kommuniziert werden, um das Wohlergehen der Betroffenen nicht zu gefährden.
Und denken Sie bitte nicht, dass eine Sache zu trivial ist, um sie zu überprüfen. Nur weil Sie gute Kenntnisse im Umgang mit Medizinprodukten haben, heißt das noch lange nicht, dass dies auch bei einem Kollegen oder einer Kollegin der Fall ist. Einer Wundauflage sieht man eben nicht auf den ersten Blick an, ob sie viel oder wenig Exsudat aufnimmt, ob sie schneidbar ist oder welche Seite der Wunde zugewandt ist.
Sie erinnern sich vielleicht noch an den berühmt gewordenen Fall von Stella Liebeck, die sich an einem Kaffee, den sie zuvor bei einer bekannten Fast-Food-Kette gekauft hatte, die Finger verbrannte. Ein amerikanisches Gericht sprach ihr 1992 eine sehr hohe Summe an Schadenersatz und Schmerzensgeld zu. Man sollte doch eigentlich meinen, dass jeder weiß, dass frisch gebrühter Kaffee heiß ist, oder?
Und aber nicht zu vergessen – Beipackzettel können auch sehr beunruhigend sein – die Liste der möglichen Risiken und Nebenwirkungen auf diesen Zetteln ist sehr lang. Und was der dann einsetzende Nocebo-Effekt bewirken kann, haben wir ja schon in einem früheren Newsletter und im WUND_plus-Bereich angesprochen.
Lesetipp aus dem WUNDmanagement-Archiv
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