Zertifizierte Netzwerke – ein Weg für die Zukunft?
Nach acht Jahren ICW-Wundsiegel zieht das Wundnetz Sachsen-
Anhalt e. V. Bilanz
Die Vorstandsmitglieder des Wundnetzes Sachsen-Anhalt, Frau Dr. Brinkers und Herr Dr. Ladetzi im Interview mit Frau Karén Schiller von der Medvia UG
Demografischer Wandel – ein Begriff der den Trend einer alternden Gesellschaft und deren strukturelle Auswirkungen beschreibt. Weniger Bevölkerung in kleineren Städten und Dörfern führt im Bereich der medizinischen Versorgung zu großen Veränderungen, um die Daseinsvorsorge zu gewährleisten. Bereits jetzt sind in Sachsen-Anhalt mehr als 100 Hausarztstellen offen. Die Versorgungslücke im ländlichen Raum, stellt gerade für Erkrankungen mit langfristigen und multiprofessionellen Therapie- und Betreuungsmodellen eine große Herausforderung dar.
Zu diesem Handlungsfeld gehört ohne Zweifel auch die Begleitung von Patienten mit chronischen Wunden. Wie kann also eine qualitativ hochwertige und komplexe Patientenversorgung gelingen, wenn der stetig wachsenden Zahl an Patienten eine sinkende Anzahl an Ärzten gegenübersteht?
Ein Lösungsansatz ist die Bildung regionaler Versorgungsnetzwerke. Führend dabei im Bereich Wundmanagement – das Wundnetz Sachsen-Anhalt e. V. ausgehend vom Medizinischen Versorgungszentrum „Herderstraße“ – eine Praxisklinik für Gefäßmedizin mit ICW-zertifizierter Wundambulanz. Die Einrichtung hat bereits vor acht Jahren das ICW-Wundsiegel erhalten und damit im Rahmen der Zertifizierung eine professionelle und leitliniengestützte Wundversorgung in den Fokus der Patientenversorgung gebracht.
Zeit für eine Bilanz! An dieser Stelle gewähren Herr Dr. Ladetzki, ärztlicher Leiter und Geschäftsführer des MVZ Herderstraße und Frau Dr. Brinkers, Fachbereichsleiterin des Kompetenzzentrums Chronische Wunde im MVZ nähere Einblicke zur Entwicklung des Versorgungsnetzes. Beide gehören zum Vorstand des Wundnetzes Sachsen-Anhalt e. V. und kennen die aktuellen Bedarfe, um bisher installierte Prozesseweiterzuentwickeln.
Medvia: Sie sind eine der Initiatoren für die Zertifizierung der Wundambulanz und den Aufbau des Wundnetzes. Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine leitliniengerechte Wundversorgung und Qualitätssicherung zu fokussieren?
Dr. Ladetzi: In der Praxisklinik, war die Behandlung von Patienten mit chronischen Wunden ein thematischer Schwerpunkt. Studienergebnisse der AOK Sachsen-Anhalt zeigten zum damaligen Zeitpunkt mehr als 2.500 Versicherte mit chronischen Wunden als Versorgungsschwerpunkt, mit einer Behandlungsdauer von durchschnittlich 18 Monaten und erheblichem finanziellen Aufwand für die Krankenkassen. Durch die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern der medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Versorgung, konnten die multiprofessionellen Angebote in und um Magdeburg bereits schnell koordiniert werden. Doch für die Patienten, die bei uns behandelt, aber in anderen Regionen weiterversorgt werden mussten, war das Modell eher strukturschwach.
Medvia: Die Wundambulanz der Praxisklinik war regional die erste Einrichtung, die durch das ICW-Wundsiegel zertifiziert wurde. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Dr. Brinkers: Mit dem Wundsiegel hatten wir die Möglichkeit nach außen transparent zu machen, dass unsere Arbeit auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Wundversorgung, Diagnostik und Therapie basiert. Darüber hinaus war es ein wichtiges strukturelles Instrument, um alle am Versorgungsprozess beteiligten Berufsgruppen einzubinden und die Koordination der Therapiebausteine effizient zu gestalten. Aufbauend konnten gemeinsame Qualitätskriterien für die Patientenversorgung und die interdisziplinäre Zusammenarbeit entwickelt werden.
Medvia: Von der zertifizierten Ambulanz zum Wundnetz. Warum war diese Entwicklung notwendig?
Dr. Brinkers: Die Patienten, die wir behandelt haben, kamen aus dem gesamten Gebiet Sachsen-Anhalts und auch aus den angrenzenden Bundesländern. Eine Struktur nur für Magdeburg und die nähere Umgebung machte dabei wenig Sinn. Wir haben die Vorstellung gehabt, regional für Sachsen-Anhalt ein Wundnetzwerk aufzubauen – angelehnt an das Konzept Onkologischer Zentren, bei dem bei entsprechender Diagnose an fachkompetente Ambulanzen und Zentren überwiesen werden muss. Aus meiner Erfahrung heraus, sind wenige Hausarztpraxen mit Personal ausgestattet, welches in der multiprofessionellen Versorgung chronischer Wunden geschult ist. Die Therapien in diesem Bereich sind sehr langwierig, fehlende Fachkenntnisse können den Heilungsprozess verlängern und die Lebensqualität des Patienten stark einschränken.
Medvia: Wie ist es Ihnen gelungen, auch andere Regionen und Versorger von dieser Idee zu überzeugen?
Dr. Brinkers: Im Rahmen von Fortbildungen oder bereits bestehenden Kooperationen gab es bereits Interessierte. Wir haben uns besonders um Partner für die Versorgung der ländlichen Regionen bemüht und eine weitere Wundambulanz in Oschersleben gefunden. Diese war vor Ort bereits gut vernetzt und konnte ihrerseits wichtige Partner im Sinne der Multiprofessionalität einbinden. Alle Beteiligten sind durch das ICW-Wundsiegel zertifiziert, für uns eine wichtige Voraussetzung für die Qualitätssicherung innerhalb des Netzwerks.
Medvia: In den Studien, die sich mit der Zusammenarbeit in integrierten Versorgungsnetzwerken beschäftigen, zeigen sich Stärken im Bereich Zusammenarbeit und Prozessqualität. Keine leichte Aufgabe bei der Vielfalt an Berufsgruppen und Versorgungsanteilen. Wie gelingt es Ihnen, Kommunikation und Qualität effizient zu gestalten?
Dr. Brinkers: Die wichtigsten Instrumente, sind die, bei denen sich die unterschiedlichen Professionen im Austausch befinden. Das sind bei uns interdisziplinäre Tagungen, Fallbesprechungen und Qualitätszirkel. Seit 2014 gibt es vierteljährliche Zirkel z. B. für den ambulantstationären Pflegebereich, bei dem Schnittstellen besonders betrachtet werden – der Weg von der Wundambulanz zur ambulanten Pflege und/oder in die stationäre Pflegeeinrichtung.
Medvia: Zur Datenerfassung werden die unterschiedlichsten SoftwareSysteme verwendet, die es häufig erschweren Informationen zwischen den Versorgern auszutauschen. Haben Sie auch eine Lösung gefunden, um eine „gemeinsame Kommunikation“ zu dokumentieren?
Dr. Ladetzi: Wir haben eine Dokumentenplattform, die von allen Mitgliedern verabschiedet wurde, worauf alle Mitglieder zugreifen können. Dies ist eine Organisationsmöglichkeit, die sich an den Erfahrungen des Wundnetzes Hamburg orientiert. Doch wir mussten eine eigene Organisationsform finden, da das Versorgungsgebiet in unserem Fall flächenhafter ist. Daher haben wir das Wundnetz Sachsen-Anhalt als eingetragenen Verein gegründet. An dieser Stelle haben wir die Möglichkeit, Partner vielfältig einzubinden und Kommunikation bzw. Dokumentation, unabhängig von den organisatorischen Rahmenbedingungen der beteiligten Einrichtungen zu realisieren und zu steuern.
Medvia: Die Studienergebnisse zeigen auch, dass der wirtschaftliche Aspekt in den Netzwerken noch nicht wirklich dominiert. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?
Dr. Brinkers: Ja, diese Situation zeigt sich auch bei uns. Das MVZ „Herderstraße“, federführend Dr. Ladetzki, hat zum damaligen Zeitpunkt für den Aufbau viel Geld in die Hand genommen. Es war auch klar, dass es eine Zeit dauert, bis die Investitionen auch „Früchte tragen“. Die AOK unterstützt die Netzwerkstrukturen seit 2009, von Beginn an, mit Verträgen zur Integrierten Versorgung. Jedoch gab es an dieser Stelle keine Anpassung an die heutigen Anforderungen. Wir hatten darüber hinaus gehofft, dass sich auch anderen Kassen anschließen – das hat sich bisher leider noch nicht ergeben. Dabei ist dies ein wichtiger Punkt, um auch mehr Partner zu gewinnen. Sicher ist das ICW-Wundsiegel eine großartige Möglichkeit des Marketings, um sichtbar zu machen, dass man an einer professionellen Wundversorgung beteiligt ist. Aber für viele Partner ist das Gleichgewicht zwischen Investition und Nutzen nicht gegeben. Solche Partner haben wir auch in unserem Netzwerk. Diese beteiligen sich sehr engagiert an den qualitätssichernden Maßnahmen im Rahmen unserer Zusammenarbeit, scheuen aber die finanziellen und personellen Ressourcen, die mit der Zertifizierung verbunden sind.
Medvia: Ein gelungenes Schnittstellenmanagement ist demnach einer der wichtigsten Punkte in der Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen. Ist dies auch Bestandteil der Zertifizierung?
Dr. Brinkers: Die Zusammenarbeit muss bisher in Form von Kooperationsverträgen und Fallvorstellungen nachgewiesen werden, aber Qualitätszirkel, die ein wichtiges Instrument sind, um die Zusammenarbeit langfristig stabil zu gestalten werden bisher nicht abgeprüft und finanziell unterstützt. Dies wäre meiner Meinung nach, eine wichtige Anpassung im Rahmen der Zertifizierung. Strukturqualität in den Einrichtungen ist unabdingbar, aber es berücksichtigt so wenig die Qualität der Kommunikation. Ich würde mir wünschen, dass die Qualität des Behandlungspfades mit all seinen Prozessen in den Mittelpunkt rückt!
Medvia: Gibt es noch weitere Aspekte im Rahmen des Netzwerkarbeit, die wichtig werden können für künftige Anforderungen im Rahmen der Behandlung von Patienten mit chronischer Wunde?
Dr. Brinkers: Durch die hohe Anzahl an Patienten, die im Rahmen des Netzwerks versorgt werden, haben wir entsprechende Fallzahlen, um auch im Bereich von Anwendungsbeobachtungen aktiv zu werden und die eingesetzten Therapiemaßnahmen herstellerunabhängig auf ihre Effektivität zu überprüfen. Darauf arbeiten wir hin… auch das gehört für uns zur Qualitätssicherung dazu!
Das Interview führte Frau Karén Schiller von der Medvia UG.
Das Unternehmen ist Mitglied im Wundnetz Sachsen-Anhalt e. V. und unterstützt die Netzwerkaktivitäten im Bereich des Qualitätsmanagements, der Öffentlichkeitsarbeit und in der Gestaltung der interprofessionellen Schnittstellen.
Bilder:
Bild 1: Die Vorstandsmitglieder des Wundnetzes Sachsen-Anhalt und Interviewpartner, Frau Dr. Brinkers und Herr Dr. Ladetzi.
Bild 2: Herr Dr. Klinsmann und Frau Dr. Fuchs betreuen im Rahmen des Wundnetzes die Wundambulanz in Oschersleben (Landkreis Börde).
Bild 3: Die Mitglieder des Qualitätszirkels Pflege sind Multiplikatoren für die stationären und ambulanten Einrichtungen und erarbeiten im Rahmen ihrer Netzwerktreffen zentrale Qualitätsstandards.
Bild 4: Integrierte Versorgung – ein sektorenübergreifendes Versorgungsmodell zur Förderung der Vernetzung verschiedener Fachdisziplinen im Rahmen der Behandlung chronischer Wunden.
Bildquellen: W. Sellmer