COVID-19 und der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD)
Ursel Heudorf: ehemals Gesundheitsamt Frankfurt, Frankfurt
Martin Exner: Institut für Hygiene und Öffentliche Gesundheit, Universität Bonn
Zusammenfassung:
Im Rahmen der COVID-19 Pandemie hat der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) Herausragendes geleistet. Durch die intensive Bearbeitung gemeldeter Fälle mit Isolierung der Indexpersonen und Quarantänisierung der ermittelten Kontaktpersonen (Containment) hat der ÖGD es geschafft, die Pandemiekurve über Monate flach zu halten und eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. In Anerkennung dieser Leistung hat die Politik einen „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ beschlossen, um den ÖGD personell und technisch besser auszustatten. Dabei wird mehrfach auf die umfangreichen präventiven Aufgaben des ÖGD hingewiesen, die im Leitbild des ÖGD von 2018 niedergelegt sind.
Allerdings führt die derzeitige Fokussierung auf SARS-CoV-2 und die inzwischen starke autochthone Ausbreitung des Virus dazu, dass alle Kräfte in der Fallbearbeitung zu SARS-CoV-2 gebündelt werden und fast alle anderen präventiven Aufgaben hintangestellt werden (müssen).
In diesem Beitrag werden das Leitbild des ÖGD, der Nationale Pandemieplan, Lehren aus früheren Pandemien sowie die Probleme aus der derzeitigen Fokussierung des ÖGD auf SARS-CoV-2 vorgestellt. Unter Hinweis auf die im Leitbild beschriebenen weiteren wichtigen Aufgaben des ÖGD wird bzgl. SARS-CoV-2 jetzt ein Strategiewechsel gemäß Nationalem Pandemieplan gefordert.
Schlüsselwörter: COVID-19, SARS-CoV-2; öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD), Leitbild ÖGD, Pandemieplan
Hintergrund
In der COVID-19 Pandemie hat der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) so viel Aufmerksamkeit von der Politik und öffentliche Wertschätzung wie wahrscheinlich noch nie in seiner Geschichte erhalten. Gesundheitsminister Spahn legt am 21.04.2020 ein Papier „Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes“ vor [1]. Der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes publiziert am 15.7.2020 einen „10 Punkte-Plan zur Stärkung des ÖGD“ [2]. Die Bundeskanzlerin lobt die Arbeit der Gesundheitsämter und beauftragt einen „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“. Inzwischen wurde der „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ veröffentlicht [3]. Wenige Tage danach fand eine Web-Konferenz des ÖGD, vertreten durch verschiedene Gesundheitsämter mit der Kanzlerin statt, in der sie nochmals ihre Wertschätzung für den ÖGD und ihrem Dank Ausdruck verlieh [4].
Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst – Leitbild für den öffentlichen Gesundheitsdienst – und die Realität 2020
Dieser „Pakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst“ sieht u.a. die Schaffung von 5000 Stellen bis 2022 (entspr. 6 Vollzeitstellen/100.000 Einwohner, davon sollen 90% in den Gesundheitsämtern entstehen), eine Digitalisierung des ÖGD, eine angemessene Bezahlung für das ärztliche Personal im Öffentlichen Gesundheitsdienst, die bessere Verankerung der Bereiche des Öffentlichen Gesundheits-wesens und der Bevölkerungsmedizin in der medizinischen Ausbildung, die Möglichkeit, Famulaturen und Praktisches Jahr als praktische Teile des Medizinstudiums im Zusammenhang mit der Versorgung von Patientinnen und Patienten grundsätzlich auch im Gesundheitsamt ableisten zu können. Mehrfach wird dabei auf das im Jahr 2018 von der Gesundheitsministerkonferenz verabschiedete Leitbild [5] hingewiesen.
In Abbildung 1 wird ein Überblick über wesentliche Punkte des Leitbilds gegeben. Neben den hoheitlichen Überwachungsaufgaben werden die steuernden, partizipativen und gesundheitsfördern-den Aufgaben dargestellt. Der vom ÖGD gelebte Gesundheitsbegriff ist weit mehr als die Abwesenheit von Krankheit, sondern ist positiv formuliert als „Zustand eines umfassenden körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens“. Neben den Kernaufgaben des ÖGD wie Infektionsschutz, Impfung, Hygieneberatung und -kontrolle , Trinkwasserhygiene etc. nimmt der ÖGD viele weitere, oft auch sozialkompensatorische Aufgaben wahr. Hierzu gehören z.B. niedrigschwellige Angebote und aufsuchende Gesundheitshilfen wie bspw. „Frühe Hilfen“, sozialpsychiatrische Beratung uvm. Koordination von Gesundheitsprojekten in der Kommune, Kommunikation, Gesundheitsberichterstattung und Politikberatung sind nicht nur in dem Leitbild, sondern oft auch als gesetzliche Aufgaben in den Gesundheitsdienstgesetzen der Länder verankert.
Kuhn und Wildner beschreiben in einer aktuellen Arbeit die lange Geschichte des ÖGD. Viele Warnungen, dass die Gesundheitsämter angesichts des Mangels an gut ausgebildetem Personal ihre kontinuierlich (und im Verlauf der Pandemie rapide) zunehmenden gesetzlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen können, hatten zu verschiedenen größere Reformdebatten in den letzten Jahrzehnten geführt. Wichtig sei jetzt, dass der mit dem Leitbild 2018 eingeschlagene Weg zu einem modernen, breit aufgestellten ÖGD mit wissenschaftlicher Fundierung und akademischer Präsenz weiterverfolgt werde [6].
Aber wie ist die konkrete Situation in COVID-19-Zeiten? Haupt- und-oft auch alleiniger Fokus ist das Meldewesen mit der Erfassung und Isolierung der positiv auf SARS-CoV-2 Getesteten, die Feststellung von Ausbrüchen und Clustern sowie die Ermittlung und Quarantänisierung der Kontaktpersonen. In vielen Gesundheitsämtern wurden alle vorhandenen Kräfte (plus zusätzlich von extern hinzugezogene Mitarbeiter) in diesem Bereich gebündelt, und andere Bereiche gleichzeitig deutlich heruntergefahren. Es gibt keine oder nur noch reduzierte Einschulungsuntersuchungen [7], keine Durchführung der zahnmedizinischen Prophylaxe an Schulen, massive Einschränkungen des sozialpsychiatrischen Dienstes und anderer Beratungs- und Untersuchungsangebote, teilweise werden sogar die Hygieneberatungen und –kontrollen nach Infektionsschutzgesetz ausgesetzt. Stattdessen werden viele Mitarbeiter aus den entsprechenden Abteilungen der Gesundheitsämter jetzt in der Ermittlungsarbeit eingesetzt – und die Aufgaben, derentwegen sie eingestellt wurden, Können derzeit nicht wahrgenommen werden. Dies ist grundsätzlich aufgrund der Pandemiesituation nachvollziehbar. Dennoch erscheint es gerechtfertigt, schon jetzt in der extrem herausfordernden Zeit der Pandemiebekämpfung auf die Zeit nach der Pandemie zu richten. ...
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