von Jan Hinnerk Timm
Leiden, Schmerzen und Belastungen werden von jedem Menschen individuell empfunden und auch unterschiedlich bewertet. Im Umgang mit Patienten ist es daher hilfreich, einen individuellen Zugang zu finden, um die persönlichen Empfindungen und Belastungen adäquat einschätzen zu können. Daten aus der Versorgungsforschung beleuchten, wie unvoreingenommen Ärzte den Patienten dabei begegnen.
Der Blick auf das Ganze
Unsere Erfahrungen, Abneigungen, Interessen und Leidenschaften, aber auch Süchte und Ängste beeinflussen unser Verhalten. Unser Verhalten hat wiederum erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesundheit, z.B. wenn wir ungezügeltem Appetit nachgeben, uns einseitig ernähren oder unseren Körper durch Drogen, Rauchen und Alkohol schädigen. Es kann daher hilfreich sein, wenn Ärzte und Pflegepersonal die oben genannten und andere Gründe für das Verhalten ihrer Patienten berücksichtigen. Dies kann im Rahmen eines ganzheitlichen Behandlungsansatzes insbesondere bei Patienten mit Langzeiterkrankungen sinnvoll sein, zumal sich daraus Ansätze für eine Verbesserung der Gesundheitssituation durch Selbstmanagement ergeben können. Ein klassisches Beispiel wäre der übergewichtige Patient, bei dem auf eine Verhaltensänderung hingewirkt werden könnte. Hier wird laut Studienlage in den meisten Praxen das klassische Merkblatt eingesetzt. Anstatt dieses einfach ausgehändigt zu bekommen, könnte es für den Betroffenen hilfreicher sein, wenn im Arzt-Patienten-Gespräch konkrete Veränderungsvorschläge vermittelt werden.
„Clinicians’ personal models, their beliefs, stereotypes, personal perceptions and assumptions about patients are likely to affect their prescribing behaviour and shared decision making.“ [1]
Es konnte gezeigt werden, dass persönliche Überzeugungen des behandelnden Arztes, z. B. Vorstellungen über Möglichkeiten des Selbstmanagements, den Patienten nachhaltig beeinflussen [1]. Im Praxisalltag fehlen jedoch häufig die zeitlichen und personellen Spielräume für einen umfassenden „Blick über den Tellerrand" und ausführliche Gespräche.
Die Untersucher untersuchen
Patientinnen und Patienten bringen ihre Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten in den Versorgungsprozess ein. Insbesondere bei langwierigen Krankheitsbildern wie chronischen Wunden kommen Vorerfahrungen und daraus resultierende Ängste oder gar traumatische Prägungen hinzu. Aber auch Ärzte, Wundversorger und Therapeuten sind Menschen und haben ihre Sichtweisen, Routinen und Vorstellungen. Welchen Einfluss die Einstellungen, Überzeugungen oder Vorbehalte der Behandelnden auf den Therapie- und Krankheitsverlauf der Behandelten haben, ist bislang wenig erforscht, rückt aber zunehmend in den Fokus der Versorgungsforschung.
Eine internationale Studie aus der dermatologischen Praxis nahm die Zusammenhänge jetzt in den Blick. Befragt wurden niedergelassene und im Krankenhaus tätige Dermatologen aus Großbritannien und Deutschland. In zwanzig- bis fünfzigminütigen Interviews wurden Fragen zur jeweiligen Vorgehensweise sowie deren Einfluss auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient beantwortet. Obwohl den meisten der befragten Dermatologen bewusst war, dass die jeweilige Hauterkrankung nicht nur mit der defekten Haut zusammenhängt, konzentrierten sie sich bei der Behandlung bevorzugt auf die körperlichen Auswirkungen. Anweisungen gegenüber den Patienten beschränkten sich dementsprechend auf die Therapiemaßnahmen. Zudem räumten die Befragten ein, in manchen Aspekten voreingenommen zu sein. Beispielsweise gingen sie davon aus, dass Patienten sich nicht für die Gründe der Wirkung eines Medikaments, sondern nur für dessen Effizienz interessieren. Zudem schlossen sie aus dem Lebensalter der Patienten auf deren Behandlungspräferenzen. So wurde bei älteren Patienten angenommen, dass Medikamenteneinnahme zum Alltag gehöre und diese daher kein Problem mit der Einnahme weiterer Medikamente hätten.
Da nur 13 Dermatologen teilgenommen haben, ist die Aussagekraft dieser Studie zwar limitiert, sie bestätigt aber bereits bestehende Erkenntnisse und lenkt den Blick auf die unbewussten Annahmen der Leistungserbringer und wie diese den Behandlungsprozess beeinflussen.
Den Pfad der rein krankheitsfixierten Versorgung verlassen
Die Versorgungsansätze, die den Menschen als Ganzes in den Blick nehmen, sind zwar aufwändiger, aber auch erfolgversprechender und zudem an einem modernen Versorgungsverständnis orientiert. So wird in der sogenannten „Trias der evidenzbasierten Medizin“, die den Standard der medizinischen Versorgung in Deutschland darstellt, das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft, Leistungserbringern und Betroffenen grafisch dargestellt. Ebenso wie den Behandlern kommen auch den Betroffenen Kompetenzen zu: Während der Arzt Experte für das Krankheitsbild ist, kennt der Patient die individuellen Ausprägungen in seinem Fall. Der Schlüssel zur Integration aller Kompetenzen in den Versorgungsprozess ist die Kommunikation. Gelingt diese, entsteht ein Ausgangspunkt für einen Prozess der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Auf dieser Basis kann Therapietreue wachsen und ein erfolgreiches Selbstmanagement entstehen.
Lesetipp aus dem WUNDmanagement-Archiv
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Literatur
1. Hewitt RM et al.: How do Dermatologists‘ Personal Models inform a Patient-centred Approach to Management. Br J Dermatol 2022;187 (1):82-88