von Jan Hinnerk Timm
Der Wissensstand in Medizin und Pflege vergrößert sich ständig und manchmal ist es gar nicht einfach, mit allen aktuellen Entwicklungen Schritt zu halten. Aber was passiert, wenn das aktuell in der Praxis vorhandene Know-How weit hinter den wissenschaftlichen Erkenntnissen zurückbleibt? Dann klafft eine Lücke zwischen Theorie und Praxis, die eine bestmögliche Versorgung der Patienten verhindert. Eine aktuelle Studie untersucht anhand der phlebologischen Kompressionstherapie, wie – und ob – Wissenserwerb und Wissenstransfer in Medizin und Pflege funktionieren.
Die Kompressionstherapie zur Behandlung phlebologischer Krankheitsbilder ist eine interprofessionell und interdisziplinär angewandte Methode, die sowohl ambulant, wie auch stationär in allen Versorgungssettings vorkommt. Es handelt sich also um ein Thema, das gut für eine solche Studie geeignet ist. Zudem ist bekannt, dass seit Jahren aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Kompressionstherapie nicht in der Praxis umgesetzt werden. Auf dem Weg von den Fachveröffentlichungen der Forschenden zu den Verordnern sowie den Anwendern am Patientenbett geht also irgendwo Wissen verloren – aber wo? An der von Oktober 2022 bis März 2023 deutschlandweit durchgeführten Studie „Wissenserwerb, Wissensstand und Wissenstransfer in der Kompressionstherapie“ nahmen 483 Pflegekräfte und 39 Mediziner teil. Im Schnitt führten die Befragten sieben Kompressionsversorgungen in der Woche durch und schätzten sich mehrheitlich als Fortgeschrittene (49 %) oder gar Experten (12,3 %) ein.
Grundlegende Literatur ist kaum bekannt
Um im Bereich der Kompressionstherapie auf dem Laufenden zu bleiben, gibt es diverse Möglichkeiten, die auch von den Befragten gut genutzt wurden. Jeweils etwa jeder Dritte informierte sich bei Kongressen, in Broschüren oder auf entsprechenden Webseiten. Hierbei waren aber jeweilige Angebote von Herstellern verbreiteter als Materialien, die von Vereinen und Fachgesellschaften erstellt werden. Etwa ein Drittel der Teilnehmer gaben an, gar keine Informationsquellen zu nutzen, um in der Kompressionstherapie auf dem neuesten Stand zu sein – so kann aktuelles Wissen kaum einen Weg in die Praxis finden. Sogar Leitlinien, die für den Berufsalltag grundlegend sind und entsprechend verbreitet sein sollten, waren kaum bekannt. So war der Expertenstandard „Pflege von Menschen mit chronischen Wunden“ des Deutschen Netzwerks zur Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) nur 16,3 % der Teilnehmer ein Begriff. Die relevanten Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), in denen Kompressionstherapie thematisiert wird, kannten gerade einmal 6,7 % der Befragten. Hier ergab sich ein interessanter Unterschied zwischen den Berufsgruppen. Während Mediziner mit den AWMF-Leitlinien deutlich vertrauter waren, kannten mehr Nicht-Mediziner den DNQP-Expertenstandard. Aber auch weitere Informationsquellen für Kompressionstherapie wurden nur gering genutzt. So lasen nur 16,1 % der Teilnehmer sechs Mal im Jahr eine entsprechende Fachzeitschrift und nur jeder vierte hatte eine abonniert. Ohne solchen Input ist nicht zu erwarten, dass Versorger mit den aktuellen Entwicklungen vertraut sind.
Der Anwender im Blick der Forschung
Da es sich um eine grundlegende Therapieform handelt, ist die Praxis der Kompressionstherapie bereits verschiedentlich untersucht worden. Allerdings betrachten solche Studien oft lediglich die verfügbaren Materialien, ihre Vor- und Nachteile und ihren Einfluss auf den Therapieverlauf. Ob eine Therapieoption effizient ist, hängt aber entscheidend vom Know-How des Anwenders ab. Aus der nun erstmalig erfolgten Untersuchung der Wege des Wissensstands, Wissenserwerbs und des Wissenstransfers in der Kompressionstherapie, ergeben sich Ansätze zur Verbesserung der Versorgungssituation in diesem Themenfeld.
Die Studie „Wissenserwerb, Wissensstand und Wissenstransfer in der Kompressionstherapie“ ist in der Zeitschrift Die Dermatologie erschienen und per open access HIER » einsehbar.
