Nachrichten zum Thema „Hygiene“ sind zu 90 % Horrormeldungen. Bakterien, soweit das Auge reicht. Egal ob im Krankenhaus, auf der heimischen Klobrille oder dem Frühstücksbrettchen, das Böse ist immer und überall – ein Wunder, dass wir bisher überlebt haben. Meist geht es um die immer wieder gleichen Themen, oft ähneln sich die „Fakten“ der verschiedenen Seiten und Autoren verblüffend. Als ich kürzlich den Bericht über „den unhygienischsten Ort überhaupt“ im Radio hörte – es ist die Damenhandtasche –, beschloss ich, dem einmal nachzugehen. Auf meiner Homepage habe ich einen Blog zu Hygienethemen. Und was meinen Sie, wurde am häufigsten angeklickt? Ein Artikel über Bakterien im öffentlichen Personenverkehr. Also denn, lassen Sie uns die Risiken und die dazugehörigen Bewältigungsstrategien einmal näher ansehen.
Mit der S-Bahn in Berlin
Unsere Reise beginnt in Deutschland, genauer, in Berlin. In der Hauptstadt steigen wir auf dem Hauptbahnhof in die S-Bahn. Jährlich wendet die S-Bahn Berlin nach eigenen Angaben neun Millionen Euro für die Sauberkeit in den 1.300 S-Bahn-Wagen auf, können wir im Internet lesen. Zusätzlich gebe das Unternehmen eine Million Euro zur regelmäßigen Instandsetzung von „Komfortschäden“ in den S-Bahn-Abteilen aus. Während des laufenden Betriebes findet die Grobreinigung der rot-gelben Züge an den Endstationen statt. Auf ausgewählten Strecken fahren Reinigungskräfte mit, die liegengebliebene Kaffeebecher, Verpackungsmüll und sonstigen Abfall entsorgen. Klasse. Klingt interessant. Mal nachrechnen. Neun Millionen für 1.300 Wagons, macht pro Wagon 6.923,– € jährlich bzw. 576,92 € monatlich. Wenn man jetzt mal eine Milchmädchenrechnung aufmacht und davon ausgeht, dass diese Kosten reine Personalkosten wären, dann kommt man bei einem Tariflohn (West) von 9,55 € auf 60 Stunden monatlich bzw. 2 Stunden täglich, die für die Reinigung eines Wagens veranschlagt werden können. Wie uns das Internet auch verrät, haben die Wagen der aktuellen Baureihe 481 eine Grundfläche von 56 m², das macht also eine Reinigungsleistung von 28 m² die Stunde. Wow!
Da fallen mir unwillkürlich die Vergleichszahlen aus deutschen Krankenhäusern ein. Berufskrankheit. Es gibt natürlich eine Spanne von bis, aber gehen Sie mal von einer Leistung von 180 m²/h für ein Patientenzimmer aus, von 98 m²/h für Sanitärräume, 74 m²/h für Intensivzimmer und 63 m²/h für den OP. Wie gesagt, es ist eine Milchmädchenrechnung, auch wenn man allenthalben hört, dass die Personalkosten immer den größten Kostenblock ausmachen. Der Fairness halber legen wir also eine Schippe drauf und rechnen der Bahn noch mal die Hälfte an Kosten für Putzmittel, Managergehälter etc. an. Was aber sagt mir
jetzt mein Ergebnis? Ist es in der Bahn so sauber, dass man dort operieren kann, oder haben wir in deutschen Krankenhäusern ein ernsthaftes Problem mit der Reini-gung? Ich bekomme es jedenfalls zu Hause nicht hin, mein 10 m² großes Badezimmer in 8 Minuten zu putzen, und für mein Wohnzimmer brauche ich auch deutlich länger als 6 Minuten. Fragen Sie mal einen Reinigungsdienstleister, wie er das schafft, dann bekommen Sie hinter vorgehalte-ner Hand zu hören, dass man im Krankenhaus das Geld nicht damit verdiene, was man reinige, sondern damit, was man weglasse. Zum Glück steht hier eine neue DIN-Norm kurz vor der Veröffentlichung. Alles wird gut. Hoffentlich.
Im Bundestag
Wir reisen weiter, mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße zum Bundestag. Dort führt uns der Weg auf die Reichstagskuppel und weil die Blase so kneift, auch auf die Besuchertoilette des Reichstags, hoch über den Dächern der Stadt und dem Plenarsaal. Ich registriere unbeschriftete Flaschen, die offenbar einen Reiniger enthalten und allerhand weitere Putzutensilien, die auf dem Waschtisch herumstehen und hier nichts verloren haben. Ich kann da nie wegsehen. Berufskrankheit. Aber auch Positives gibt es zu entdecken: Offenbar arbeitet man hier, wie im Krankenhaus auch, mit einem Mehrfarbsystem bei den Reinigungstüchern. Rot für die WC’s, gelb und grün für den Rest. Unschön nur, dass alle Tücher über der Heizung getrocknet werden oder andernorts sinnfrei im Raum verteilt sind. Kurz hatte ich es vergessen: Ich bin ja gar nicht im Krankenhaus, sondern im Bundestag. Da muss man Abstriche machen. Oder lieber nicht. Aber mal ehrlich: Reden wir hier über ein ernstes Hygieneproblem, oder allenfalls darüber, welchen Eindruck das auf die internationalen Besucher machen dürfte?
An der Hotelbar
Das war ein anstrengender Reisetag. Wir erholen uns bei einem Bier an der Hotelbar. Hätte ich doch bloß nicht die Zeitung aufgeschlagen, die in der Lobby lag, dann wüsste ich jetzt auch nichts von den Ergebnissen des Hessischen Landeslabors aus der Beprobung von Schankanlagen. Fast die Hälfte aller getesteten Biere war verkeimt, von insgesamt 87 Proben frisch gezapfter Biere wurden 37 (42,5 %) wegen coliformer Keime beanstandet. Bei zwei Bierproben war auch Escherichia coli nachweisbar. Zum Glück schmeckt man das nicht raus.
Und was ist mit den Gratis-Nüsschen, die in einem Schälchen auf dem Tresen zum Knabbern einladen? Sie sind umsonst, deshalb dürfen wir sie doch nicht einfach stehen lassen! Oder sollten wir sie besser nicht anrühren? Eine schnelle Internetrecherche ergibt: „Auf Erdnüssen, Pistazien & Co., die in Schälchen in Bars angeboten werden, befinden sich Spuren von Urin von bis zu 27 verschiedenen Personen.“ Schreibt jedenfalls die bereits erwähnte Boulevardzeitung. Und die werden es wohl wissen.
Dass es stimmen muss, ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass es auch viele, viele andere schreiben. Immer wieder taucht dabei die magische Zahl 27 auf. Woher wissen die das so genau? Wie der britische TV-Produzent John Hardress Winfred Lloyd und der Wissenschafts-Journalist John Mitchinson herausgefunden haben, lassen sich diese „Fakten“ auf eine gemeinsame Quelle zurückführen: Johnny Depp gab die Story 2005 in einer großen US-Talkshow zum Besten. Ok, es gibt also keine Studie darüber. Aber so ganz falsch liegt Herr Depp nicht. Als der London-Evening-Standard 2003 in sechs Pubs Stichproben der Snacks untersuchen ließ, wurden in vier davon Enterobakterien gefunden. Wie kommen die Bakterien in die Nussschüsseln? So, wie fast alle Bakterien von A nach B reisen. Über die Hände. Im Jahr 2000 befragte die Amerikanische Gesellschaft für
„Auf Erdnüssen, Pistazien & Co., die in Schälchen in Bars angeboten werden, befinden sich Spuren von Urin von bis zu 27 verschiedenen Personen.“ (Johnny Depp, 2005)
Mikrobiologie 1.000 Personen nach ihren Waschgewohnheiten nach WC-Benutzung. 95 % der US-Bürger gaben an, dass sie ihre Hände danach IMMER waschen würden. Die mit Kameras dokumentierte Realität sah anders aus: es waren nur 58 %.
Okay. Also kein Bier, keine Nüsse. Sicher ist sicher, lieber Wasser trinken. Deutsches Trinkwasser gehört zu den am besten überwachten Lebensmitteln überhaupt. Wenn man es in Ruhe lässt. Verfällt man im Hygienewahn allerdings dem Irrglauben, dass die Qualität mit einem Haushalts-Trinkwasserfilter zu verbessern sei, dann züchtet man dabei Bakterien in einer Anzahl, dass von Trinkwasserqualität nicht mehr die Rede sein kann. Sie vermehren sich munter im Filtermaterial, die Grenzwerte der Trinkwasserverordnung werden locker um das x-fache überschritten. Was sind die tatsächlichen Probleme? Mal ganz ehrlich, diese Hygiene-Facts sind alle ganz nett zu lesen, aber lassen Sie uns doch endlich auf die tatsächli-chen Probleme schauen. Jetzt wird‘s wirklich ernst. Bleiben wir beim Wasser, aber zunächst nicht beim Trink-, sondern beim Abwasser. Während beispielsweise Autowaschanlagen über eigene Kläranlagen verfügen, suchen wir diese in Krankenhäusern vergeblich. Sie könnten aber in absehbarer Zeit zur Pflicht werden, wie ganz aktuell die ersten Ergebnisse des HyReKa-Projekts nahelegen. In der groß angelegten Studie wurden Abwässer aus dem Klinikbereich bzw. von Klinik-beeinflussten städtischen Abwässern mit kommunalen Abwässern aus ländlich geprägten Einzugs-gebieten verglichen. Man fand eine qualitativ höhere Belastung der Klinik-beeinflussten städtischen Abwässer mit Gramnegativen Erregern, die gegen 4 Antibiotikagruppen einschließlich Carbapenemen und z.T. Colistin resistent sind. Der Anteil von 4MRGN an allen getesteten Gram-negativen Isolaten in urbanen Abwässern inkl. Kliniken betrug 28,4 %, sogar 9,7 % wiesen eine zusätzliche Colistin-Resistenz auf. Bei den Gewässer- und Abwasserisolaten aus einem ländlichen Fließgewässereinzugsgebiet waren dies nur 0,4 % bzw. 0,18 %. In den heutigen Kläranlagen findet zwar eine Reduktion der kulturell nachweisbaren resistenten Bakterien im Zuge der Abwasserbehandlung statt, aber nur um rund 2–3 Log-Stufen. Es verbleiben jedoch noch Antibiotika-resistente Mikroorganismen, die eindrücklich den Handlungsbedarf hinsichtlich der notwendigen Intervention bei Kläranlagen belegen, so die Ergebnisse der Studie. Die Resistenzgene gelangen in großem Maß in die Vorfluter und in die Umwelt. Womit wir dann wieder beim Trinkwasser wären, das vielerorts aus Flüssen gewonnen wird. Wir bekommen die Antibiotika also frei Haus, rezeptfrei obendrein. Durch geeignete Aufbereitungsverfahren wäre das vermeidbar. Erschreckend ist, dass bereits vor über 20 Jahren bekannt war, dass ca. 83 % der Bakterien in Kläranlagen eine Resistenz gegen mindestens ein Antibiotikum aufwies. Und was haben wir dagegen unternommen? Geforscht. Studien sind gut, aber es müssen auch Taten folgen. Eine Membranfiltration und Ozonierung des Abwassers ist auch gut, aber warum in Dreiteufelsnamen ist es in Deutschland nicht möglich, das Übel endlich bei der Wurzel zu packen? Wir doktern immer nur an den Wirkungen herum, anstatt das Pferd von vorne aufzuzäumen. Wir nehmen es in Kauf, mit multiresistenten Bakterien kolonisierte Patienten für viel Geld zu screenen, zu isolieren und von Kopf bis Fuß mit antibakteriellen Lösungen zu schrubben und unser Abwasser hochtechnisiert aufbereiten zu müssen, um die antibiotische Belastung zu senken, aber zu einem rationellen und verantwortungsbewussten Umgang mit Antibiotika sind wir offenbar nicht in der Lage. Zu groß sind die Profite und Interessen der Pharmaindustrie, zu träge und bequem ist der Verbraucher.
Ich würde mir wünschen, mehr über diese wirklichen Probleme zu hören. Noch viel mehr würde ich mir Meldungen darüber wünschen, dass man die Lösung dieser realen Probleme angegangen ist. Schöne Nachrichten wären zum Beispiel diese:
Berlin: Das Gesundheitsministerium veröffentlichte heute eine gemeinsame Presseerklärung mit dem Landwirtschaftsministerium und dem Verbraucherschutzministerium. Es wurde mitgeteilt, dass seit der Einführung restriktiver Verordnungsbeschränkungen für Antibiotika sowohl im human- als auch im veterinärmedizinischen Bereich die Zahl der mit multiresistenten Antibiotika belasteten Geflügelproben im deutschen Einzelhandel von über 50 % auf 2 % zurückgegangen ist. Seit der Einführung der 4. Filterstufe in Kläranlagen und der Nachrüstung von Kläranlagen in Krankenhäusern sind auch im Trinkwasser keine Spuren von Antibiotika mehr nachweisbar. Die höheren Kosten für Fleisch und Trinkwasser wurden von der Bevölkerung überwiegend akzeptiert.
München: Eine Umfrage des NaBu hat ergeben: Das Motto der Deutschen lautet jetzt „Halt weniger, aber halt gut“.
Bremen: Neuer Hauptsponsor des SV Werder Bremen ist der Biohof Kaemena im idyllischen Bremer Blockland. Dazu ex-Werder-Manager Willi Lemke: „Ausnahmsweise halten wir es da ganz mit den Bayern: „Halt weniger, aber halt gut.“ Der bisherige Sponsor, ein Geflügel-Großmastbetrieb, hatte aufgrund fehlender Nachfrage die Produktion eingestellt.
Michael Kaufmann Hygienecoach
Hoheluchter Straße 20, 26316 Varel
E-Mail: kaufmann@hygienecoaching.de
Homepage: https://hygienecoaching.de/
Facebook: https://www.facebook.com/Hygienecoach
Artikel aus:
WUNDmanagement Kongressbegleiter, 9.-10-Mai 2019, S.41-43.
Foto: Jona Lange, Varel