von Jan Hinnerk Timm
Mit einer koordinierten Awareness-Kampagne engagiert sich die European Wound Management Association (EWMA) in diesem Jahr besonders für die Kompressionstherapie. Die Kampagne ist international ausgerichtet und beinhaltet, neben ausführlichem und praxisnahem Informationsmaterial, eine Reihe von Online-Veranstaltungen, die in Kooperation mit den Wund-Fachgesellschaften mehrerer europäischer Länder organisiert werden. Die deutschsprachige Veranstaltung fand als Online-Seminar am 30. März unter dem Namen „Kompressionstag“ (eine direkte Übersetzung des britischen Grundkonzepts „Compression Day“) statt. Der Kompressionstag wurde in Zusammenarbeit mit der Initiative Chronische Wunden e.V. (ICW) realisiert und von Kerstin Protz, Vorstandsmitglied der EWMA und Beiratsmitglied der ICW, koordiniert.
Kompressionstherapie – wirksam aber wenig beliebt
Einleitend begrüßte Dr. Christian Münter vom Vorstand der ICW die mehr als 840 Teilnehmer, erläuterte die Veranstaltung und sprach einige grundlegende Informationen an. Die durchgängige Teilnahme an der Veranstaltung war mit drei ICW-Fortbildungspunkten bewertet. Zudem hatten Ärzte die Gelegenheit, bis zu drei CME-Punkte zu erwerben. „Die Beliebtheit der Therapie steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit“, kommentierte Münter den Themenkomplex der mangelhaften Verbreitung der Kompressionstherapie. Hier setzt die Awareness-Kampagne der EWMA an, die anschließend von Kerstin Protz vorgestellt wurde, die einleitend der Geschäfts- und der Zertifizierungsstelle sowie dem Vorstand der ICW für die tatkräftige Unterstützung dankte. Dann wies sie auf die von der EWMA erarbeiteten und produzierten Folien, Flyer, Filme und Quellensammlungen hin, die in verschiedenen Sprachen als Downloads auf der EWMA-Webseite zugänglich sind. „Diese Materialien wenden sich an alle Versorgergruppen, nicht nur an die Pflege, auch an Ärzte, Therapeuten sowie Patienten und deren Angehörige“, so Protz.
Leitliniengerechte Versorgung
Die im Jahr 2018 erschienene AWMF-Leitlinie zur Kompressionstherapie nahm anschließend ICW-Vorstandsmitglied Prof. Dr. Dissemond unter praktischen Gesichtspunkten genauer in den Blick. Diese aktuelle Handhabe wurde federführend von der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie erarbeitet. Sie führt die Gesamtheit der Indikationen und Kontraindikationen für die Kompressionstherapie an und räumt zudem mit einer inzwischen überholten Begrifflichkeit auf, was Dissemond lobend erwähnte, denn „es gibt keine relativen
Kontraindikationen“, so der Essener Dermatologe.
Im Folgenden stellte er den Teilnehmenden die fortgeschrittene PAVK, die dekompensierte Herzinsuffizienz, die seltene Phlegmasia coerulea dolens und die septische Phlebitis vor. Diese Kontraindikationen der Kompressionstherapie erläuterte Dissemond anhand anschaulicher Beispiele und zog hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Therapieform das Fazit: „Unterstützt die Kompression die Abheilung? Wahrscheinlich ja. Unterstützt sie die Prophylaxe? Auf jeden Fall!“
Phasengerechte Kompressionstherapie
Auch Prof. Dr. Knut Kröger nahm in seinem anschließenden Vortrag Bezug auf die Leitlinie. Er erläuterte die ze. Sie gliedert sich in Entstauungsphase, Erhaltungsphase und Prävention. Insbesondere auf den Übergang von Entstauung zu Erhaltung gelte es nach Ansicht des Krefelder Angiologen, ein besonderes Augenmerk zu legen. Der Entstauungserfolg zeigt sich oft an rutschenden Kompressionsbandagierungen, wenn diese mit Kurzzugbingen gefertigt sind. Kröger sieht es daher als essenziell an, dass sich Verordner mit den zur Verfügung stehenden Materialien und Therapieoptionen beschäftigen. Meist kämen aber Anregungen zur Änderung der Therapie von Seiten der Pflege. Der Wegfall einer starren Zuordnung von Kompressionsklassen zu bestimmten Krankheitsbildern, wie sie früher üblich war, ermöglicht es heutzutage, sich bei der Verordnung am Patienten zu orientieren. Auch wenn Kurzzugbinden in den meisten Fällen am Anfang der phasengerechten Kompressionsversorgung stehen, geht es im Verlauf darum, zeitnah auf die Ulkus-Strumpfsysteme und die medizinischen Kompressionsstrümpfe umzusteigen. Hierbei spielt die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit eine Schlüsselrolle: „Wenn wir sechs Monate lang das Gleiche tun, haben wir das Prinzip der phasengerechten Kompressionstherapie nicht verstanden“, so Kröger.
Druck in Theorie und Praxis
Kerstin Protz nahm den Ball anschließend mit den „Grundlagen der Kompressionsbandagierung“ auf, die sie in einem praxisnahen Vortrag erläuterte. Der Entstauungserfolg ist die Basis für die Entscheidung, wann die Versorgung von der Entstauungsphase zur Erhaltungsphase adaptiert wird. Wenn sich die Ödeme jedoch unterhalb der Kompressionstherapie nicht mindern, müssen die Versorgung entsprechend angepasst und auch weitere Therapieoptionen in den Blick genommen werden, so Protz: „Wenn ich nach einer Woche nicht sehe, dass sich der Umfang der Extremität um mindestens 1 cm reduziert, dann stimmt was nicht.“ Die Hamburger Fachautorin empfiehlt daher, eine regelmäßige Überprüfung der Ödemabschwellung mit Einmal-Maßbändern in die Versorgungsroutine mitaufzunehmen. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Kompressionsversorgung sei der therapierelevante Druck, der bei Menschen mit Ulcus cruris venosum bei 40-60 mmHg liegt. „Jetzt haben wir den Wert, aber wie bekomme ich diesen hin?“ Protz empfahl hierfür regelmäßiges Üben mit einem Druckmessgerät, das den erzielten Anlagedruck unterhalb der Binden misst. Notwendig sei zudem eine adäquate Auf-, Ab- und Unterpolsterung der Bandagierung zur Gewährleistung der Druckverteilung und als Schutz vor Hautschädigungen und Einschnürungen. Abschließend erläuterte Protz die Erstellung eines sachgerechten phlebologischen Kompressionsverbandes mit Kurzzugbinden – und was dabei schief gehen kann – anhand anschaulicher Bilder aus ihrer alltäglichen Praxis und mit Fallbeispielen.
Dr. Christian Münter widmete sich anschließend auf Basis seiner langjährigen Praxis als niedergelassener Arzt der Verordnung der Kompressionstherapie im hausärztlichen Bereich. „Bei der Verordnung gibt es eine Reihe von Hindernissen und Fallstricken, die die Therapie erschweren oder gar verhindern können“, so Münter. So sollte bei der Verordnung von Bindenbandagierungen auf Bezeichnungen wie „Pütter“ verzichtet werden. Hierbei handelt es sich um einen Eigennamen und nicht um eine Bezeichnung eines Hilfsmittels, das korrekt „Kurzzugbinde“ heißt. Für die Verordnung von medizinischen Kompressionsstümpfen sind Angaben von Länge und Kompressionsklasse essentiell. Ob flach- oder rundgestrickte Modelle gemeint sind, empfahl Münter zusätzlich durch einen Vermerk der Indikation zu verdeutlichen. Bei Ulkus-Strumpfsystemen lohnt sich zudem eine genauere Angabe des vorgesehenen Modells. Zur Verordnung der intermittierenden pneumatischen Kompressionstherapie (IPK) ist laut Münter eine umfassende Begründung angeraten, dennoch scheitern die meisten Anträge auf IPK an den Kostenbedenken der Kassen. Kompressionsversorgung ist teuer, so Münter abschließend, daher helfen sorgsame und zutreffende Begründungen den Kostenträgern im ambulanten Bereich die Verordnung nachvollziehen zu können.
Individuelle Lösungen für individuelle Patienten
Prof. Dr. Dissemonds anschließender Vortrag ergänzte weitere ökonomische Aspekte. Unter dem Titel „Was kostet Kompressionstherapie?“ beleuchtete er die verschiedenen zur Verfügung stehenden Therapieoptionen unter ökonomischen Gesichtspunkten und zog einen Vergleich zwischen stationären und ambulanten Bereich. Basierend auf den Einkaufskosten einer Essener Klinik wurde von Dissemonds Team eine Kalkulation der Kosten der Versorgung von Patienten mit Ulcus cruris und entsprechenden Ödemen vorgenommen. Hinzu kamen die Personalkosten und der Zeitaufwand, der mit der Anlage der jeweiligen Systeme verbunden war. „Es war uns wichtig, zu schauen, was ist wie teuer“, erläuterte Dissemond. Hierbei ist zu beachten, dass die Versorgung günstiger wird, je länger die Bandagierungen am Bein verbleiben. Daraus wird deutlich, dass es zum Teil vom Vorgehen der Anwender und von der Art der Anwendung der Materialien abhängt, ob eine Kompressionsversorgung teurer oder günstiger wird. „Kompressionstherapie mit Kurzzugbinden ist komplex, fehleranfällig und letztlich teuer“, so Dissemond. Seiner Ansicht nach lohne es sich, Alternativen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten in den Blick zu nehmen. Hierbei gelte es, die Kompressionstherapie auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten abzustimmen und diese nach Möglichkeit entsprechend ihren Fähigkeiten miteinzubeziehen.
An die Perspektive der Betroffenen knüpfte PD Dr. Cornelia Erfurt-Berge mit ihrem Beitrag „Edukation – Venensport, Materialpflege, was kann ich selbst tun?“ an. Hierbei spannte sie den Bogen zum Beginn der Veranstaltung und warf ein Schlaglicht auf die Möglichkeiten und Grenzen der Edukation von Patienten mit Kompressionstherapie. „Am Anfang jeder Patientenedukation steht die Informationsweitergabe“, so die Dermatologin. Darauf bauen individuelle Beratung und Anleitung auf. Hierbei können Informationsmaterialien eine wichtige Unterstützung darstellen. So gibt es Informationsmaterial von der EWMA und eine gute Broschüre zur Kompressionstherapie vom Wundzentrum Hamburg e.V.
Mit ihrem Team hat Erfurt-Berge auch selbst eine Patienteninformation erarbeitet, die gemäß einer Evaluation gut angenommen wird. Sie berichtete anschließend über Erfahrungen aus einer Tagesklinik der Hautklinik Erlangen, wo sich ein Team mit einer Wundexpertin der Edukation von Patienten widmet, die etwa alle zwei Wochen Termine wahrnehmen. „Als universitäres Zentrum sehen wir meist Patienten, die bereits sehr lange Wunden haben“, so Erfurt-Berge über die Arbeit der Ambulanz. Häufig liegt der Grund hierfür in einer nicht adäquat durchgeführten Kompressionstherapie. Durch Edukation und Unterstützung der Betroffenen gelänge es entsprechend oft, auch solche Fälle zur Abheilung zu bringen, berichtete Erfurt-Berge.
Viel Interesse und viele Fragen
In zwei von Dissemond und Protz moderierten Fragerunden, die nach jeweils drei Vorträgen stattfanden, konnten die Referenten auf einige der zahlreichen Beiträge der Teilnehmer eingehen, die zwischenzeitlich im Chat aufgelaufen waren. Hierbei zeigte sich großes Interesse an den finanziellen Aspekten der Kompressionstherapie. Für die Arbeit eines universitären Zentrums sieht Erfurt-Berge hier die Notwendigkeit einer Mischkalkulation. Hinsichtlich der Arbeit des niedergelassenen Bereichs wies Münter darauf hin, dass es in der Kommunikation mit den Kostenträgern darauf ankäme, gut zu argumentieren und auch zwischen möglichen Therapieoptionen zu differenzieren, beispielsweise abzuwägen, ob eine kostspieligere Versorgung nach Maß wirklich notwendig sei.
Auf die Frage, wer für die Überprüfung der Kompressionstherapie und entsprechende Therapieanpassungen zuständig sei, ging Kröger ein. Er sprach in diesem Zusammenhang den pflegerischen Versorgern vor Ort, beispielsweise den Wundexperten, eine besondere Bedeutung zu. Weitere Fragen thematisierten die Materialpflege, die, wenn sie sachgerecht durchgeführt wird, die Lebensdauer von Binden und Strümpfen maßgeblich verlängern kann. Protz wies in diesem Zusammenhang auf die Packungsbeilagen hin: „Ich weiß, die sind meist sehr klein geschrieben, aber die Lektüre lohnt sich“, so die Wundexpertin. In der Regel seien alle am Markt verfügbaren Strümpfe bei 40°C und die Kompressionsbinden bei bis zu 95°C waschbar. Die hohen Temperaturen seien bei Kurzzugbinden laut Protz auch angemessen, denn oft sind diese Materialien beispielsweise durch Exsudat stark verunreinigt. Einige Teilnehmer berichteten ihre Erfahrungen mit Patienten mit stark ödematösen Beinen, die Kompressionstherapie nur schwer tolerieren. In diesem Zusammenhang wies Erfurt-Berge darauf hin, dass es möglich ist, statt einer Kompressionsstrumpfhose auch einzelne Komponenten, wie Vorfußkappe, Unterschenkelstrumpf und Capri-/Radlerhose miteinander zu kombinieren. Protz bestätigte, dass solche Zusammenstellungen oft besser toleriert werden.
Beim digitalen Kompressionstag der EWMA und der ICW waren zeitweise bis zu 843 Teilnehmer gleichzeitig online. Diese Resonanz spiegelt das große Interesse wider, dass dieser wichtigen Therapieform entgegengebracht wird. In diesem Sinne ist die Awareness-Kampagne der EWMA als voller Erfolg zu werten.
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