von Jan Hinnerk Timm
Eine chronische Wunde stellt die Betroffenen vor eine Vielzahl von Herausforderungen, die weit über die medizinischen Aspekte und die Erfordernisse der Therapie hinausgehen. Das Leben der Patienten wird auf vielfältige Weise beeinflusst - der Alltag muss anders organisiert werden, Möglichkeiten werden eingeschränkt, Gewohnheiten ändern sich und auch persönliche Bindungen werden erheblich beeinflusst. Eine europaweite Studie hat die Auswirkungen einer chronischen Wunde auf das soziale Leben der Patienten untersucht und die Konsequenzen für das soziale Umfeld und die gesellschaftliche Teilhabe der Betroffenen beleuchtet.
Die chronische Wunde verändert das Leben
Die Beeinträchtigungen durch eine chronische Wunde sind vielfältig und reichen von Schmerzen, Geruchsentwicklung und Exsudatbildung bis hin zu Bewegungseinschränkungen. Neben den rein körperlichen Auswirkungen treten auch psychische Belastungen auf, die sich erheblich auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken können, wie z.B. Stress, Schlafstörungen, Ängste oder Depressionen. Hinzu kommen finanzielle Belastungen und Einschränkungen in der selbstbestimmten Alltagsgestaltung bis hin zur Aufgabe gewohnter Aktivitäten. Die chronische Wunde wirkt sich also in vielerlei Hinsicht auf das alltägliche Leben aus und hat dementsprechend auch Einfluss auf das soziale Umfeld und die persönlichen Beziehungen der Betroffenen. So können z.B. die gewohnten Treffen mit Freunden nicht mehr wahrgenommen werden, während gleichzeitig die Termine mit professionellen Leistungserbringern zunehmen. In einigen Fällen, insbesondere bei sehr langen Therapieverläufen, kann es dazu kommen, dass der Behandler zur wichtigsten Bezugsperson wird.
Partizipation, Unterstützung und Gesundheit
Das Ausmaß, in dem sich Menschen in die Gesellschaft einbringen können, wie sehr sie an der Gemeinschaft teilhaben und ob sie ihre Interaktionen mit anderen selbstbestimmt gestalten können, bestimmt die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe - dies hat Auswirkungen auf die Zufriedenheit, die Lebensqualität und auch auf die Gesundheit. Eine möglicherweise eingeschränkte Mobilität, aber auch das individuelle Schamgefühl aufgrund der mit der Wunde verbundenen Gerüche sind Aspekte, die die soziale Teilhabe der Betroffenen erschweren. Angesichts dieser und anderer Auswirkungen chronischer Wunden profitieren Patienten jedoch nachweislich von der Unterstützung durch ihr soziales Umfeld.
In der Studie „How does a chronic wound change a patient‘s social life? A European survey on social support and social participation“ zeigen die Autoren Janke et al., dass die eigene Familie dabei die größte Rolle spielt. Je mehr Unterstützung die Betroffenen von ihrer Familie erhielten, desto geringer war die Belastung durch die Einschränkungen aufgrund der chronischen Wunde. Hervorgehoben wurde von den Studienteilnehmern auch die Unterstützung durch spezialisierte Wundversorger, die neben der eigentlichen Wundbehandlung vor allem emotionale Unterstützung leisteten. Dies unterstreicht die besondere Bedeutung der professionellen Wundversorgung im Themenfeld chronische Wunden. Dabei erwies es sich als besonders förderlich, wenn die Wundversorger nicht wechselten, sondern als vertraute Bezugspersonen erhalten blieben.
Aus individueller Sicht
An der zwischen 2020 und 2021 europaweit durchgeführten Studie nahmen 263 Patienten aus sieben Ländern teil: Litauen, Niederlande, Österreich, Polen, Schweiz, Slowakei und Spanien. Neben einem allgemeinen Fragebogen gaben die Teilnehmer aus den deutschsprachigen Ländern zusätzlich persönliche Einschätzungen ab, in denen sie über den Einfluss der chronischen Wunde auf Aktivitäten und persönliche Beziehungen berichteten und beschrieben, wie sich diese im Laufe der Zeit verändert haben.
Darüber hinaus geben die Angaben der Befragten einen kleinen, individuell gefärbten Einblick in Versorgungssituationen und die Bedeutung persönlicher Unterstützung. Aussagen wie „Mein Sohn kümmert sich jeden Tag um mich und schaut nach meiner Wunde“ oder „Meine Frau unterstützt mich; ohne sie könnte ich nicht zu Hause bleiben“ verdeutlichen die auch statistisch belegte Bedeutung familiärer Bindungen in der Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden. Andere Kommentare spiegelten den Einfluss der chronischen Wunde auf andere soziale Bindungen wider. Diese reichten von „Meine Freunde wollen mir helfen und motivieren mich, wieder aktiver zu werden“ über „Der Kontakt zu meinen Freunden hat sich auf ein Minimum reduziert“ bis hin zu „Soziale Kontakte sind nicht möglich, da die Lebensqualität zu gering ist“ und zeigten damit eine große Bandbreite auf.
Auch in den überwiegend positiven Bewertungen ihrer Wundexpertinnen und Wundexperten betonen die befragten Patienten deren Rolle als Bezugsperson, die in ihrer Bedeutung weit über die eigentliche Behandlung hinausgeht. „Meine Wundexpertin. Sie ist sehr erfahren, kompetent und vertrauenswürdig“ oder „Ich zeige meine Wunde nur meinem Wundmanager, sonst niemandem“ sind nur zwei Beispiele für die hohe Wertschätzung, die in der überwiegenden Zahl der Einzelaussagen der Patienten im Rahmen dieser Studie zum Ausdruck kommt.
Ein Blick in die Zukunft
Die Prävalenz chronischer Wunden liegt weltweit bei 1,67 pro 1000 Personen, steigt aber mit zunehmendem Alter an. Im Zuge einer immer älter werdenden Gesellschaft gewinnen chronische Wunden daher insbesondere in Europa an Bedeutung. Bei gleichzeitig zunehmendem Fachkräftemangel – insbesondere in Medizin und Pflege – sind das Selbstmanagement der Betroffenen sowie die Einbeziehung der Angehörigen und des sozialen Umfelds wichtige Faktoren zur Sicherstellung der Versorgung. Erkenntnisse aus der Versorgungsforschung können helfen, Probleme zu identifizieren, Chancen zu erkennen und den zu erwartenden Herausforderungen adäquat zu begegnen. Dabei gilt es, neben den medizinischen Aspekten auch die Auswirkungen der chronischen Wunde und ihrer Behandlung auf die Betroffenen in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen.
Originalpublikation
Janke TM, Kozon V, Barysch M, Valiukeviciene S, Rackauskaite L, Reich A, Stepień K, Jankechova M, van Montfrans C, Amesz S, Conde Montero E, Augustin M, Blome C: How does a chronic wound change a patient‘s social life? A European survey on social support and social participation. International Wound Journal, 2023;20:4138–4150.
Lesetipp
Die Lebensqualität ist das Schwerpunktthema in der WUNDmanagement-Ausgabe 5/2015.