Leitsatz des BGH
Im Arzthaftungsprozess wird die erweiterte - sekundäre - Darlegungslast der Behandlungsseite ausgelöst, wenn die primäre Darlegung des Konfliktstoffs durch den Patienten den insoweit geltenden maßvollen Anforderungen genügt und die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite aufgrund der Folgen für ihn gestattet, während es dieser möglich und zumutbar ist, den Sachverhalt näher aufzuklären. Letzteres wird bei der Behauptung eines Hygieneverstoßes regelmäßig der Fall sein. Für das Auslösen der sekundären Darlegungslast ist nicht Voraussetzung, dass der Patient konkrete Anhaltspunkte für einen Hygieneverstoß vorträgt. (Fortführung Senat, Beschluss vom 25. Juni 2019 -VI ZR 12/17, NJW-RR 2019, 1360).
Fallbeschreibung
Bei der an Diabetes leidende Patientin wurde in der Klinik des Beklagten während eines neun Tage langen stationären Aufenthalts unter anderem eine Magenspiegelung, eine Koloskopie und eine Schmerztherapie durchgeführt. Drei Tage nach der Entlassung wurde sie erneut aufgenommen, denn der Blutzuckerspiegel war entgleist, die Patientin hatte erhebliche Schmerzen und war körperlich sehr schwach. Nachdem auch erhöhte Entzündungswerte festgestellt worden waren, erfolgte eine Behandlung einer vermuteten Infektion und klinischer Anzeichen einer Lungenentzündung mit verschiedenen Antibiotika und Cortison. Die Patientin verstarb sechs Tage nach der zweiten Aufnahme in die Klinik an einer schweren Sepsis. Es wurde im Nachhinein in einer Blutkultur Staphylococcus aureus nachgewiesen.
Der Verfahrenshergang
Das Urteil des Landgerichts wurde vom Berufungsgericht abgeändert und die Beklagten zur Zahlung von 2.500 € Schmerzensgeld verurteilt. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerinnen (Erbinnen der verstorbenen Patientin), die ihre Berufungsanträge auf Feststellung und Zahlung (höheren) Schmerzensgeldes weiterverfolgen, soweit diese zurückgewiesen worden sind.
Nachweis von Hygienemängeln
Das Berufungsgericht hatte in der nicht vollzogenen Blutzuckermessung vor der Entlassung der Patientin, in der Wahl und der Dosierung des Antibiotikums und der Verabreichung von Cortison Behandlungsfehler gesehen. Die Klägerinnen hätten dagegen nicht schlüssig dargelegt, dass die Patientin aufgrund eines (strukturellen) Hygienemangels infiziert worden sei, und sie hätten den Nachweis eines groben Fehlers nicht führen können. Sie könnten etwa für die Vorwürfe wie das Nichtbenutzen von Händedesinfektionsgeräten oder das Berühren von Patienten ohne Handschuhe keinen Beweis erbringen. Schließlich hätte auch der Sachverständige einen Behandlungsfehler hinsichtlich des Komplexes Hygienemängel verneint, und der Privatgutacher stütze sich ebenfalls nicht auf Hygieneversäumnisse. Es bestehe daher kein Anlass, zusätzlich ein Gutachten eines Krankenhaushygienikers einzuholen, wie von den Klägerinnen beantragt. Es sei davon auszugehen, dass ein solches Gutachten, wenn überhaupt, allenfalls einen einfachen Fehler ergeben könnte. Dieser hätte keinen Einfluss auf Art und Umfang der Ansprüche.
Maßvolle Anforderungen an die Substantiierungspflichten des Patienten
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen die an eine hinreichende Substantiierung des Klagevortrags zu stellenden Anforderungen überspannt hat. An die Substantiierungspflichten des Patienten im Arzthaftungsprozess sind nur maßvolle Anforderungen zu stellen. Es können keine genauen Kenntnisse der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Insbesondere ist der Patient nicht verpflichtet, mögliche Entstehungsursachen einer Infektion zu ermitteln und vorzutragen.
Das BGH befand den Vortrag der Klägerinnen zu Hygienemängeln entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts für schlüssig. Er reiche aus, eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten auszulösen. Es seien durchgängig Hygieneverstöße struktureller Art und auch individuelle Versäumnisse beobachtet worden. Daher oblag es den Beklagten, konkret zu den von ihnen ergriffenen Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygiene und zum Infektionsschutz bei der Behandlung der Patientin vorzutragen, etwa indem Desinfektions- und Reinigungspläne und Bestimmungen des Hygieneplans vorgelegt werden.
Für die antizipierte Bewertung des Berufungsgerichts zum Einfluss des Gutachtens eines Krankenhaushygienikers auf die Gesamtbetrachtung sah der BGH keine Grundlage.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerinnen wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 26. Juni 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich des Schmerzensgeldanspruchs die Berufung zurückgewiesen worden ist. Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Weitere Urteile zu dieser Thematik, auch vom BGH, finden Sie in Hygiene und Recht (HuR), beispielsweise die Urteile HuR Nr. 44, 301, 304 und 332 mit ausführlichen Anmerkungen der Herausgeber sowie in unserem PLUS_Bereich.