Infektion einer Frühgeborenen mit P. aeruginosa im Krankenhaus als "Arbeitsunfall" anerkannt
BSG, Urteil vom 7.5.2019 - B 2 U 34/17 R
In dieser Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in Kassel geht es um Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung für eine Infektion mit nachfolgendem Gesundheitsschaden, die sich die Klägerin während eines Krankenhausaufenthaltes nach der Geburt zuzog.
Fallbeschreibung
Die Klägerin wurde am 9. April 1992 während der 30. Schwangerschaftswoche in einem Krankenwagen geboren. Direkt anschließend wurde sie in der neonatalen Intensivstation der Kinder- und Jugendklinik in S. aufgenommen. Wegen einer Anpassungsstörung der Lunge mit Lungenentzündung wurde sie apparativ beatmet und antibiotisch behandelt. Sie verbrachte größtenteils im Inkubator. Der Zustand besserte sich. Am 8. Lebenstag wurden erneut eine Pneumonie und auch eine beginnende Sepsis festgestellt. Ab dem 15. Lebenstag atmete die Klägerin spontan und ohne Zeichen von Luftnot und war kreislaufstabil. Am 17. Tag wurde die Antibiotikatherapie beendet. Am 3.5.1992 traten plötzlich Apnoen und Bradykardien auf. Es wurde eine Meningitis diagnostiziert, die durch P. aeruginosa hervorgerufen wurde und die zur Ausbildung eines Hydrocephalus führte, der operativ versorgt werden musste.
Verfahrensgang
Die Unfallversicherung hatte die Feststellung der Infektion als Arbeitsunfall 2003 abgelehnt. Klage und Berufung (SG Düsseldorf, LSG Nordrhein-Westfalen) blieben ohne Erfolg. Die Nichtzulassungsbeschwerde wurde verworfen. 2008 stellte die Klägerin einen Antrag auf Aufhebung der Bescheide, das SG wies die Klage ab, das LSG wies die Berufung zurück. Hiergegen wendete sich die Klägerin mit ihrer Revision. Das BSG erachtet die Revision als zulässig und begründet.
Infektion mit „Gesundheitsschaden“ als Unfallereignis
Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte Feststellung eines Arbeitsunfalles sind die bis zum 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO (Reichsversicherungsordnung, heute geregelt in §8 Abs. 1, SGB VII). Die Klägerin erhielt nach ihrer Geburt mit der Aufnahme in die Universitätsklinik von einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung eine stationäre Heilbehandlung in einem Krankenhaus und war deshalb Versicherte i.S. der RVO und damit unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Das eigentliche Unfallereignis ist das Eindringen des Bakteriums: Dies ist ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (vgl. RVO, heute SGB VII). Für die Anerkennung als Unfall muss zudem ein (weitergehender) Gesundheitsschaden in Form einer Funktionsstörung vorliegen. Dieser ist die Meningitis verbunden mit Atemstillständen und Herzrhythmusstörungen. (vgl. zum funktionalen Krankheitsbegriff BSG Urteil vom 27.7.2017 - B 2 U 17/15 R, Borrelieninfektion eines Forstwirts: Die bloße Aufnahme von Erregern oder Bildung von Antikörpern ist für die Anerkennung als Berufskrankheit nicht ausreichend).
Das BSG erläutert mit Bezug zum Infektionsrisiko: Das Risiko, bei der Entgegennahme einer stationären Behandlung auf einer Intensivstation in einem Krankenhaus eine bakterielle Infektion mit dem Keim Pseudomonas aeruginosa zu erleiden, ist vom Versicherungsschutz des § 539 Abs 1 Nr 17 Buchst a RVO umfasst. Dieses Bakterium ist nach den Feststellungen des LSG ein typischerweise in Krankenhäusern vorkommender Keim, der in Kliniken feuchte Stellen an Armaturen und im Kondenswasser an Gegenständen besiedelt. Damit kann das Bakterium in allen feuchten Bereichen des Krankenhauses vorhanden sein, mit denen die Versicherten zwangsläufig in Kontakt kommen. Diese Art der Verbreitung schafft für Versicherte, die eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus entgegennehmen, ein erhöhtes Risiko, eine solche bakterielle Infektion in der Klinik zu erwerben. Sie können sich während der stationären Krankenhausbehandlung der Infektionsgefahr weder entziehen noch davor wirksam selbst schützen.
Infektionsursache
Der genaue Infektionsweg ist nicht bekannt. Der Schutz durch die Unfallversicherung ist gegeben, da keine anderen (durch Arzt- und Krankenhaushaftplicht) versicherten ärztlichen oder pflegerischen Behandlungsfehler oder andere Faktoren als wesentliche Infektionsursache nachgewiesen werden konnten und rein hypothetisch bleiben (die Beweislast liegt beim Beklagten).
Nach den Ausführungen des BSG würde das – nicht festgestellte – „Mitbringen des Keims durch die Eltern auf die Intensivstation als mögliche Ursache im vorliegenden Fall einen Behandlungs- bzw. Organisationsfehler des Klinikums darstellen“.
Fest stand, basierend auf einem Gutachten, dass sich die Infektion zum Zeitpunkt der Behandlung auf der Intensivstation ereignete. Der Infektionszeitpunkt ließ sich zwischen dem 2.5.1992, 17 Uhr, und dem 3.5.1992, 17 Uhr, eingrenzen.
Der Erhalt der stationären Behandlung ist damit als die einzige erkennbare Ursache für die Infektion zu werten. Bei dem Frühgeborenen im Inkubator bestand diese versicherte Behandlungssituation ohne Unterbrechung während des gesamtes Krankenhausaufenthaltes. Ein „eigenwirtschaftliches“, privates Handeln des Frühgeborenen ist nicht denkbar.
Rücknahme des Ablehnungsbescheids und Feststellung des Arbeitsunfalls
Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel sprach der inzwischen 27 Jahre alten Betroffenen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu.
Aufgrund der besonderen Situation des Frühchens kann der Fall nicht ohne weiteres auf andere Krankenhausinfektionen übertragen werden.
Carola Ilschner
Weiterführende Literatur zu diesem Urteil:
- Infektion mit Krankenhauskeim als Bestandteil des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes. GesR 2019;12:778-783.
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