Interview: Erfahrungen von Hygieniker*innen in der Pandemie

Zusammenfassung der Antworten von Dr. Jürgen Gebel
 

Wir alle haben uns in den letzten zwei Jahren besonderen Herausforderungen stellen müssen, unsere Gewohnheiten angepasst und immer wieder neue Maßnahmen angenommen und umgesetzt. Aber wie erging es eigentlich Krankenhaushygieniker* innen, die diese Umstellung und Anpassung für ein ganzes Krankenhaus oder andere medizinische oder öffentliche Einrichtungen planen, umsetzen und verantworten?

Wir haben Hygieniker*innen aus verschiedenen Bereichen und Ländern (Österreich, Deutschland) diesbezüglich vier Fragen gestellt. Dazu gehören die Krankenhaushygieniker PD Dr. Christian Brandt, PD Dr. Markus Hell, Hans Hirschmann, MPH, Prof. Dr. Nils-Olaf Hübner und Prof. Dr. Walter Popp. Mit PD Dr. med. Sabine Gleich haben wir eine Hygienikerin aus dem Gesundheitsamt München und mit Prof. Dr. Miranda Suchomel eine Hygienikerin von der Medizinischen Universität Wien befragt.

 

Hat sich Ihr Arbeitsfeld während der Pandemie verändert? Inwieweit haben sich die Schwerpunkte Ihrer Arbeit verschoben und wo liegen diese aktuell?

Bei der Beantwortung dieser Frage sind sich die Krankenhaushygieniker einig, dass sich der Schwerpunkt ihrer Arbeit von MRE auf Corona verschoben hat und Lagebesprechungen mit Krankenhausführung und lokalen Behörden hinzugekommen sind.
Dazu äußert Brandt:

„Inhaltlich kamen auf einmal weitere Themen hinzu: Unterstützung von Klinikverwaltungen/Betriebsärzten bei Konzepten für rationalen Einsatz von Schutzausrüstung, Unterstützung oder Übernahme von Verantwortlichkeiten beim Kontaktpersonenmanagement und bei der Organisation von Personal-Untersuchungen und -Impfungen.“

Des Weiteren müsse man sich nun mit dem Thema „Datenschutz und Arbeitsrecht“ in Zusammenhang mit der Kontaktpersonennachverfolgung auseinandersetzen.
Auch Hübner betont, dass „die Pandemie viele andere Themen zurückgedrängt und auf das Notwendigste reduziert“ habe. Gleichzeitig seien viele neue Aufgaben übernommen und Strukturen aufgebaut worden, wie die Corona-Ambulanz, ärztliche Leitung des Abstrichzentrums, die Erarbeitung von COVID-19-Handbüchern, aber auch Politikberatung. Insbesondere bei Gleich im Münchner Gesundheitsamt habe sich das Arbeitsspektrum verschoben; war sie schon vor der Pandemie „für die Hygieneüberwachung medizinischer Einrichtungen zuständig und arbeite vor allem in der Überwachung und Beratung in der allgemeinen Krankenhaushygiene“, seien durch Corona das tägliche Reporting verschiedener Parameter (Fallzahlen, Todesfälle, Kontaktpersonen, …) sowie Beratungen und Begehungen vollstationärer Pflegeeinrichtungen hinzugekommen.

 

Sehen Sie das Aufgabengebiet und den Stellenwert der Hygieniker in der Öffentlichkeit adäquat abgebildet?

Die Befragten sind sich einig, dass Aufgabengebiet und Stellenwert von Hygieniker*innen und der Hygiene nicht adäquat abgebildet sind. Dies wird auf verschiedene Gründe bezogen: Hell hätte von der Hygiene eine

„klare und vernünftige öffentliche Gegenposition zur politischen Position“ erwartet, stattdessen gebe es „politisch genehme Experten aus anderen Fachbereichen“.

Auch Popp bezieht sich auf die Experten aus verschiedenen anderen Fachbereichen, die nicht im Konsens, sondern als Einzelpersonen medial dargestellt würden. Hirschmann sagt dazu:

„Im Vordergrund stehen Politiker und Experten, welche sich vor der Pandemie mit dem Thema ‚Vermeidung von Infektionen‘ nicht beschäftigt haben“,

die Hygiene sehe er in der Defensive, er habe aber auch nicht die Zeit, um in der Öffentlichkeitsarbeit tätig zu werden.
Brandt:

„In den Publikumsmedien waren Hygieniker leider kaum präsent, auch die Politik hat sich bei der Auswahl von Experten offenbar gerne an Virologen, Infektiologen und Epidemiologen (teilweise mit nicht-medizinischem Hintergrund) gehalten. Wahrscheinlich waren wir Hygieniker zumeist auch in unseren Klinik-Pandemiestäben etc. so sehr mit dem operativen Geschäft beschäftigt, dass wir kaum zeitliche Ressourcen hatten, uns Politik und Medien als Gesprächspartner anzubieten.“

Zudem führt er an, dass sich der öffentliche Diskurs mit Hygienekonzepten für Schulen, Kultur und Gastronomie beschäftige, während den Hygienikern die Konzepte für Krankenhäuser zugetraut und auch kaum kritisch diskutiert würden. Gleich weist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Stellungnahmen der DGKH hin:

„Diese betreffen beispielsweise die Situation in den Pflegeeinrichtungen, den Einsatz dezentraler Luftreinigungsgeräte, viruzides Gurgeln, das grundsätzliche Tragen von FFP2-Masken durch die Allgemeinbevölkerung, Teststrategien zur COVID-Diagnostik in Schulen, die Hospitalisierung und Sterblichkeit von COVID-19 bei Kindern in Deutschland und nicht zuletzt den Corona Knigge für Jung und Alt. All diese Stellungnahmen können frei zugänglich auf der Internetseite der DGKH  eingesehen und heruntergeladen werden.“

Suchomel bemerkt, dass die Hygiene in der Gesellschaft allein mit Händewaschen assoziiert sei, nicht aber mit den anderen Präventionsmaßnahmen wie zum Beispiel Quarantäne, Abstand oder Husten-Nies-Etikette.


Mit Blick auf die Zeit nach der Pandemie: Was denken Sie, wird von den Masken im Krankenhaus und in der Öffentlichkeit bleiben?

Bei dieser Frage sind sich unsere Experten überwiegend darüber einig, dass sich das Bewusstsein verändert hat. Gleich:

„Ich glaube, dass hier ein großer Bewusstseinswandel sowohl in Fachkreisen als auch in der Allgemeinbevölkerung stattgefunden hat. Das Tragen einer Maske in bestimmten Situationen wird weitestgehend akzeptiert.“

Vorstellbar wäre ein saisonaler Einsatz von Masken. Popp appelliert sogar an RKI und BZgA, diese Erfahrung für Präventions-Kampagnen zu nutzen:

„Angesichts der massiven Erfolge bei der Reduktion von Norovirus- und Influenza-Infektionen wäre es aber gut, wenn man im November jeden Jahres mit öffentlichen Kampagnen beginnen würde, dass ab Dezember mit Norovirus und Influenza zu rechnen ist und dass jeder, der eine Erkältung hat, Maske tragen sollte. Und dass Händehygiene wichtig ist, um Norovirus-Übertragungen zu verhindern. Das wäre Aufgabe von RKI und BZgA.“

Brandt vermutet, dass Menschen mit respiratorischem Infekt in Zukunft aus Rücksicht mit Maske das Haus verlassen und situationsabhängig zum Beispiel bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel darauf zurückgreifen würden.
Hirschmann spricht von der „utopischen Hoffnung“, dass zukünftig Menschen mit leichten respiratorischen Symptomen sich nur mit MNS/FFP-Masken in die Öffentlichkeit/an den Arbeitsplatz begeben, Mitarbeiter ihre Krankheit zu Hause auskurieren dürfen, dass jeder Patient mit respiratorischem Infekt in einem Einzelzimmer isoliert wird und das Personal zum Selbstschutz MNS/FFP-Masken trägt. Demgegenüber äußert er jedoch die Befürchtung, dass nach Ende der Pandemie

„alles wieder ist wie zuvor: keine Gedanken mehr an Tröpfcheninfektionen, die Influenza und andere Erkrankungen werden sich wieder wie vor der Corona-Pandemie ausbreiten und die jährlich tausenden Grippe-Todesopfer werden wieder gesellschaftlich toleriert.“


Gibt es etwas im Zusammenhang mit der Pandemie, worüber Sie sich besonders viele Gedanken gemacht haben und das Sie unseren Lesern mitteilen möchten?

Hell merkt an, dass die Grundlage unserer Gesellschaft und unserer Fachgesellschaften, nämlich evidenzbasierter Dissens und Diskurs aus dem Auge verloren worden wäre und appelliert:

„Mein Apell wäre, mit vereinten Kräften diese Basiselemente, von denen eine demokratische Gesellschaft und auch medizinisch- wissenschaftliche Gesellschaften leben, wiederherzustellen und allen Tendenzen, die den eingeschlagenen Kurs weiterverfolgen, Einhalt zu gebieten.“

Popp betont als positive Erkenntnis den Zusammenhalt der DGKH während der Pandemie und die Präsentation als Gesamtheit anstelle von Einzelpersonen. Er gesteht aber auch Fehler ein:

„Wir hätten früher die soziale Frage erkennen müssen, da letztlich schon vor 150 Jahren bei der Tuberkulose galt, dass Armut und beengte Wohnverhältnisse Infektionstreiber sind. Daher halte ich für eventuelle künftige ähnliche Situationen fest, dass wir viel mehr Vor-Ort-Ermittlungen durchführen müssen.“ Und: „Wir haben uns zu wenig die Alten- und Pflegeheime am Anfang angesehen.“

Auchleich beschäftigt die Situation von Alten- und Pflegeheimen:

„dass es uns trotz intensiver Beratung und Begehung in den Einrichtungen nicht gelungen ist, die vulnerable Gruppe der Altenheimbewohner vor einer COVID-19-Infektion und den daraus resultierenden schwerwiegenden Konsequenzen zu schützen.“

Sie geht noch weiter und sieht dringende Notwendigkeit von Veränderungen, auch wenn die Lage unter Kontrolle scheint:

„Impfungen gegen SARS-CoV-2 können die bestehenden strukturellen Hygieneprobleme in den Einrichtungen, die durch die Corona- Pandemie mit erschreckender Deutlichkeit und all ihren Konsequenzen für die Bewohner offenbar wurden, nicht lösen.“

Damit bezieht sie sich auf Ausbrüche anderer infektiöser Erreger und deren Management. Außerdem kritisiert Gleich

„die Art und Weise, wie die fachlich hervorragende Arbeit der STIKO in der derzeitigen öffentlichen Diskussion desavouiert wird, wir sollten froh sein, dass es solche von allen Interessen unabhängigen Expertengremien bei uns gibt.“

Hirschmann stellt sich die Frage, ob die ergriffenen Maßnahmen die richtigen waren/sind, ob die Schwerpunkte der Maßnahmen stimmen und ob man eine Impfpflicht für bestimmte Personengruppen (z.B. Mitarbeiter in Gesundheitswesen, Kindererziehung) in Erwägung ziehen sollte. Suchomel ist im Hinblick auf „Resistenzentwicklungen gegenüber Antibiotika und Bioziden“ besorgt.

„Die Therapieexzesse und v.a. auch Desinfektionsexzesse, die während der Pandemie weltweit stattgefunden haben, haben hier wahrscheinlich als „Brandbeschleuniger“ gedient… .“


Hübner hat sich insbesondere darüber Gedanken gemacht,

„wie differenziert und rational wir als Gesellschaft Herausfoderungen angehen und über die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft, Politik und öffentlicher Wahrnehmung und darüber, ob und wie wir als Gesellschaft Willens und in der Lage sind, Probleme zu erkennen, zu benennen und sie tatsächlich anzugehen, ohne daran zu zerfallen.“

 

Aus den Antworten ist insgesamt eine unaufgeregte, sehr selbstbewusste und geschlossene Haltung der befragten Hygienikerinnen und Hygieniker abzulesen. Dies macht Mut für die Zukunft und die sich stellenden Aufgaben im Zuge des aktuellen Pandemiemanagements aber auch für zukünftige epidemiologische Problemstellungen, die letztendlich nur durch konsequente Hygienestrategien in den Griff zu bekommen sind.

 

++ Das Interview erschien in HYGIENE & MEDIZIN 11.2021 ++

 

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