Haben wir Zeit für unsere Wundpatienten?

© iStock.com/wildpixel

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ein Kommentar von Martin Motzkus

Eigentlich haben wir doch eigentlich reichlich viel Zeit. Ziemlich genau 24 Stunden pro Tag. Alles, was wir tun und der entsprechende Zeitbedarf verknappen jedoch dieses wertvolle Gut. Es wird suggeriert, dass Effizienz, moderne Technik und gute Strukturen uns helfen, die anstehenden Dinge schneller zu erledigen und wir so am Ende mehr Zeit übrig. Die Realität ist jedoch häufig eine andere. Der Satz „Ich habe keine Zeit“ ist zu einem Sinnbild geworden für den vielzitierten Zeitgeist.

 

„Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich!“ Dieser Satz geistert immer wieder durch die sozialen Medien, wenn es um Effizienz, ergebnisorientiertes Arbeiten und ähnliche Themen geht.

Nun geht es im Themenfeld dieses Newsletters vor allem um Menschen, die an einer chronischen Wunde leiden. Hier geht es nur in zweiter Linie darum, effizient zu arbeiten und „abzuliefern“. In Erster Linie sind es Menschen mit Sorgen und Nöten, deren Wunden oft vernachlässigt oder bagatellisiert wurden und die damit häufig Jahre lang zu kämpfen haben. Zeit spielt dabei eine große Rolle. Zum einen ist es für Betroffene von großer Bedeutung, wie lange es dauert, bis ihre Wunde verheilt, aber eben auch, wie die Zeit bis zur Abheilung gestaltet wird und was das für ihren Alltag bedeutet.

Ich lernte vor einigen Monaten eine 36-jährige Mutter dreier Kinder kennen. Sie war drei Jahre lang an einem gamaschenartigen Ulcus cruris venosum behandelt worden. Leider stellte sich kein Erfolg ein, weil niemand sich die Zeit für einen alltagstauglichen Plan, die Schulung und Edukation (auch ihres Ehemannes) nahm und die starke Keimbelastung der Wunde nicht in den Griff zu bekommen war.  

Sie ging nicht mehr aus der Wohnung, Erledigungen aller Art waren Aufgabe des Ehemannes und sie beklagte starke Schmerzen. Unangenehmer Geruch und ständiges Nässen der Wunde begleiteten ihren Alltag. Sie träumte davon, mit ihren Kindern zusammen mal wieder einen schönen Ausflug mit dem Fahrrad zu machen, wie sie mir schon im Rahmen der Wundanamnese mitteilte. Die Einschränkungen der Wunde beschrieb sie als massiv und sehr belastend. An Arbeit in ihrem Beruf als Einzelhandelskauffrau war nicht zu denken!

Ja, wir wissen, Wunden schmerzen, nässen und riechen mitunter unangenehm. Die Wunde selbst ist somit oft Grund genug für eine schlechte Lebensqualität durch Einschränkungen im Alltag und natürlich Beschwerden.

Aber auch die Therapie, mitunter sogar Therapeuten sorgen nicht selten dafür, dass weitere Einschränkungen dazu kommen. Der rutschende Verband, die einschnürende Kompression, der unbequeme und modisch nicht gerade ansprechende Therapieschuh sind Beispiele von Zumutungen, die durch die Therapie selbst entstehen können.

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Häufig führt das dann zum Therapieabbruch seitens des Patienten, der Patient gilt fortan als „noncompliant“. Hat jemand erst einmal diesen „Stempel“ verpasst bekommen, wird sich oftmals noch weniger um ihn gekümmert. Dabei wird doch heutzutage gerade in der Wundversorgung ein Patient eher als therapieadhärent oder eben nicht beschrieben. Zeugt das Wort Adhärenz doch auch von einem partnerschaftlichen Verständnis und professionellem Umgang mit dem zu Behandelnden. Aufklärung, Beratung bis hin zur Schulung gehören dazu. Ist ein Patient anschließend nicht bereit, bestimmte Anteile der Therapie zu tolerieren, gibt es immer noch Gründe, die es zu beleuchten gibt. Selbstkritisch muss man dann sicher auch des Öfteren zugeben, dass da am Patienten und seinem Alltag vorbeigeplant worden ist.

Der Faktor Zeit ist hier oft Hinderungsgrund genug, denn die Erhebung einer sorgfältigen Anamnese und das gemeinsame Pläneschmieden erfordern eben diese. Fehlt diese Zeit, gehen Erkenntnisse verloren, es kann zu Fehleinschätzungen bis hin zur Fehldiagnose kommen, Behandlungspläne gehen in die falsche Richtung, was fatale Folgen nach sich ziehen kann.

Ein guter Zuhörer, der eine vertrauensvolle Atmosphäre schafft, offene Fragen stellt und den Patienten einfach mal reden lässt, ist dabei oft derjenige, der schon nach wenigen Minuten deutlich mehr weiß als alle anderen, die den Patienten wohlmöglich schon viel länger kennen. Vermutlich könnten bei der Behandlung vieler Patienten eine große Menge Zeit und Kosten eingespart werden, wenn eine strukturierte Anamnese, eine gute Informationsweitergabe und das berühmte „Ziehen an einem Strang“ stattfinden würden.


Lesetipp

BuchcoverWer mehr über dieses spannende Thema lesen möchte, dem empfehle ich das hervorragende Buch von Bernard Lown: „Die verlorene Kunst des Heilens, Anleitung zum Umdenken“ (Suhrkamp Verlag 2004) Dr. Lown, der 2021 im Alter von 99 Jahren starb, war Kardiologe, der nicht nur den Defibrillator und die Kardioversion erfunden hat, sondern auch noch Friedensnobelpreisträger gewesen ist. Sein Buch erzählt Geschichten, die sein spannendes berufliches Leben geprägt haben und auch solche, die historisch gesicherte Fakten darstellen. Dabei geht es immer um das Verhältnis zwischen dem Arzt und seinen Patienten, den Wert einer sorgfältigen Anamnese aber auch die Macht der Sprache. Viele Erkenntnisse lassen sich problemlos auch in die eigene Praxis integrieren. Am Ende heilen Wunden schneller, Betroffene haben eine höhere Lebensqualität und vor allem das Gefühl, gehört zu werden mit ihren Sorgen und Nöten.

Letztlich gestaltet sich durch die wertvolle Ressource Zeit das Behandeln auch einer Wunde erfolgversprechender. Ein informierter Patient ist eher bereit, auch für ihn unangenehme Therapien zu akzeptieren, wenn sich denn ein Erfolg einstellt. Eine gesteigerte Adhärenz erleichtert die Arbeit an der Wunde, weil vermeidbare Komplikationen ausbleiben. Am Ende kostet eine verheilte Wunde keine Zeit mehr, weil die Behandlung nicht mehr notwendig ist. Und schließlich bringt es dem Patienten wertvolle Zeit zurück, die er in andere Aktivitäten stecken kann, zum Beispiel die Prävention oder Dinge, die Lebensqualität bedeuten.

Tja, und was wurde aus der 36-jährigen Patientin? Nach zweiwöchigem Aufenthalt und genau so langer häuslicher Behandlung (unter anderem durch den geschulten und sehr wissbegierigen Ehemann) konnte die Wunde erfolgreich durch eine Mesh-Transplantation gedeckt werden. Die Patientin hatte nun zum ersten Mal seit drei Jahren keine Beschwerden mehr. Sie hatte aktiv an ihrer Mobilität gearbeitet und lief wieder Treppen, machte kurze Spaziergänge und hatte wieder Lebensmut gefasst.

Ich traf sie viele Wochen nach der abgeschlossenen Behandlung wieder. Wissen Sie wo? Auf der Straße mit dem Fahrrad und drei kleinen Kindern auf einem Ausflug zum Spielplatz. Ihr Traum war erfüllt und natürlich haben wir uns kurz unterhalten. Stolz zeigte Sie mir ihr verheiltes Bein und erzählte mir davon, dass sie sich aktuell um einen Job im Einzelhandel bewarb.
Die banale Erkenntnis: Um Zeit zu gewinnen, braucht es Zeitinvestitionen (in den Patienten). Zeit, die sich im Übrigen meistens lohnt, für beide Seiten, wie ich finde.

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